Schulversagen bei Migranten

Der 7. Forschungsbericht der Pädagogischen Hochschule Heidelberg enthält die Darstellung eines Forschungsprojekts, in welchem versucht wurde, die Fragen zu klären, warum Kinder von Migranten in Sonderschulen für Lernbehinderte erheblich überrepräsentiert sind und warum diesbezüglich so erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern und Nationalitäten bestehen. (Den ganzen Text zum Download im Word Format, im HTML Format)

Eine Fortsetzung der statistischen Anlaysen wurde durch eine finanzielle Unterstützung der
Max-Traeger-Stiftung gewährleistet. Auszüge aus dem dem Antragstext finden sich nachfolgend.


Veröffentlichungen:

"Überrepräsentation":
Leitung: Prof. Dr. Reimer Kornmann
Mitarbeit: Anabel Behnke, Dipl. Päd.
PD Dr. Peter Burgard, Dipl.-Psych.
Petra Hahn, Dipl. Päd.
Laufzeit: 06/98-04/2000
Förderung: Pädagogische Hochschule Heidelberg

1. Kurzdarstellung

Die Überweisung an eine Sonderschule für Lernbehinderte (Förderschule, Schule für Lernhilfe oder andere länderspezifische Bezeichnungen) gilt als deutlicher Indikator für Schulversagen. Ausländische Kinder und Jugendliche sind seit Jahren in dieser Schulform überrepräsentiert, wie entsprechende Auswertungen der Statistischen Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz (KMK) zeigen (Kornmann & Schnattinger, 1989: Kornmann, 1991; Kornmann & Klingele, 1996, Kornmann, Klingele & Iriogbe-Ganninger, 1997; Kornmann, 1998). Auffallend sind dabei der deutliche zunehmende Trend der Überrepräsentation in den alten Ländern der Bundesrepublik Deutschland sowie die diesbezüglich erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern und Nationalitäten.
Schlüssige Erklärungen für diese Entwicklungen und Tatbestände liegen noch nicht vor

Zielsetzungen

Mit dem Forschungsprojekt sollte ein Beitrag zur Erklärung der beschriebenen Situation geleistet werden, der zugleich auch Perspektiven für angemessene pädagogische Hilfen bietet. Die bisherigen Erklärungsansätze haben sich auf migrationsspezifische Faktoren beschränkt. Möglicherweise führen sie deswegen nicht weiter, weil sie ethnisierenden und somit stigmatisierenden Konzepten Vorschub leisten. Umfassendere Erklärungsansätze müßten solche Aspekte der außerschulischen Lern- und Lebensbedingungen berücksichtigen, die auch bei deutschen Kindern als lern- und entwicklungsbehindernd gelten. In einer ersten Näherung soll erkundet werden, ob sich der Befund erhärten läßt, wonach korrelative Zusammenhänge zwischen der Überrepräsentation und der Arbeitslosigkeit von Migranten zu bestehen scheinen (Kornmann, 1998).

  • Vorgehensweise

    Die bisher vorgelegten Befunde zur Überrepräsentation werden ergänzt, wobei die Maßzahlen für die Jahre ab 1985 für alle Bundesländer und Nationalitäten berechnet werden. In gleicher Weise werden Maßzahlen für die Arbeitslosenquoten von Ausländern ermittelt. Auf dieser Grundlage sollen dann Korrelationen berechnet werden.
    In einem zweiten Ansatz wurde geprüft, ob sich Länder oder Regionen mit deutlich unterschiedlichen Maßen für die Überrepräsentation ausländischer Kinder und Jugendlicher in Sonderschulen für Lernbehinderte hinsichtlich demographischer Merkmale, welche insbesondere die Lebenssituation von Migranten betreffen, unterscheiden.


    2. Ergebnisse

    Eine differenzierte Analyse des in den bisherigen Arbeiten verwendeten Maßes für die Überrepräsentation ergab, dass dieses nicht stabil gegenüber bestimmten irrelevanten Veränderungen der jeweils einbezogenen Populationen ist. Es wurde daher durch den "Relativen Risiko-Index" ersetzt (Burgard, in Vorbereitung). Die mit dem Relativen Risiko-Index berechneten Maße für die Überrepräsentation bestätigen weitgehend die bisher ermittelten Befunde (Kornmann, Burgard & Eichling, 1999). Zwischen Arbeitslosigkeit und Sonderschulbesuch zeigt sich für die Länder der alten Bundesrepublik Deutschland über die Jahre 1985 bis 1996 hinweg ein enger korrelativer Zusammenhang von r = .82. Darüber hinaus sind folgende Differenzierungen zu beachten:
  • Aufgeschlüsselt nach Bundesländern variieren die entsprechenden Korrelationskoeffizienten jedoch erheblich: zwischen r = -.51 (Schleswig-Holstein) und r = .93 (Niedersachsen).
  • Berechnet man die Korrelationen auf der Grundlage der einzelnen Bundesländer als Merkmalsträger, dann zeigen sich zwei deutlich abfallende Verläufe: von r = .37 (für das Jahr 1985) auf r = -.39 (1990) und von r = .34 (1992) auf r = .06 (1996). Somit lassen sich die Unterschiede zwischen den Bundesländern bezüglich der Überrepräsentation ausländischer Kinder in Sonderschulen mit der Arbeitslosigkeit von Ausländern in diesen Ländern in keinen geschlossenen, eindeutigen Zusammenhang bringen. Ganz offensichtlich gibt es in einzelnen Bundesländern (Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Saarland und Hessen) Entwicklungen, die gegenläufig zu dem Trend in den übrigen Bundesländern und Westdeutschland sind und die abgesunkenen Korrelationen erklären. Zumindest in diesen Bundesländern müssten, wenn die generelle Hypothese des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Sonderschulbesuch bei Migranten beibehalten werden soll, weitere Faktoren eine bedeutsame Rolle spielen.
  • Die Angehörigen der beiden Nationalitäten, die die höchsten RRI für den Sonderschulbesuch aufweisen, Türken und Italiener, weisen auch die höchsten RRI für Arbeitslosigkeit auf. An den diesbezüglichen Zusammenhängen hat sich seit 1985 nichts Wesentliches geändert. Von der Zunahme der Arbeitslosigkeit seit 1991 sind aber alle erfassten Nationalitäten in annähernd gleichem Maße (bei jeweils recht unterschiedlichen Ausgangslagen) betroffen. Allerdings sind seit etwa 1992 die RRI für den Sonderschulbesuch von jugoslawischen Kindern besonders dramatisch angestiegen, während bezüglich der RRI für Arbeitslosigkeit bei Jugoslawen keine Besonderheiten im zeitlichen Verlauf festzustellen sind.
  • Im Jahre 1990 ist in den alten Bundesländern ein kurzfristiges Absinken der RRI bezüglich der Arbeitslosigkeit bei allen Nationalitäten festzustellen; spätestens im Jahre 1992 sind aber die RRI des Jahres 1989 wieder erreicht oder deutlich überschritten.
    Erste Interpretationsansätze dieser Befunde gehen in folgende Richtungen:
  • Negative oder geringe Korrelationen zwischen Arbeitslosigkeit und Sonderschulbesuch von Ausländern können dort auftreten, wo zunehmend Migranten mit deutschem Pass (also Kinder von Aussiedlern) und Kinder von Asylanten (deren Eltern nicht in die Arbeitslosen- bzw. Beschäftigungsstatistik eingehen) in Sonderschulen eingewiesen werden, so dass hier die relativen Anteile von Migrantenkindern zurückgehen oder zumindest annähernd konstant bleiben.

Auch unterschiedliche lokale Konstellationen und damit korrespondierende schulorganisatorische Maßnahmen könnten die Umschulungsquoten von Migrantenkindern so beeinflussen, dass dadurch die direkt erkennbaren Effekte von Arbeitslosigkeit neutralisiert werden. Dies wäre etwa der Fall, wenn in Städten mit hoher Arbeitslosigkeit und hohen Anteilen ausländischer Bevölkerung in manchen Grundschulen reine Ausländerklassen gebildet werden. In diesen Klassen liegt es nahe, den Lernerfolg der Kinder anhand klasseninterner oder individueller Maßstäbe zu bestimmen. Dabei werden Vergleiche mit deutschen Kindern vermieden, die ansonsten die Grundlage für negative Beurteilungen geboten hätten. Nach Ablauf der Grundschulzeit werden solche Klassen dann möglicherweise geschlossen in die Hauptschule überführt. Auch in den entgegengesetzten Fällen müsste sich der Einfluss von Arbeitslosigkeit nicht in den statistischen Analysen niederschlagen: Einzelne ausländische Kinder in vorwiegend von deutschen Kindern dominierten Klassen könnten es hier - auch unabhängig von den Auswirkungen ihrer Lebenslage - besonders schwer haben, die Anforderungen zu erfüllen.

Aufgrund eingehender Literaturstudien haben wir uns entschieden, die Hypothese des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Schulerfolg zwar nicht gänzlich zu verwerfen, sondern in einen umfassenderen Zusammenhang zu integrieren. Als Konsequenz dieser Entscheidung ergibt sich, weitere Bedingungen in Betracht zu ziehen und ein differenzierteres Erklärungsmodell zu entwickeln.
So wurde das Arbeitsprogramm um die Berechnung der RRI auf alle Kreise bzw. Aufsichtsbereiche der Staatlichen Schulämter in Baden-Württemberg ausgedehnt. Die Berechnungen der RRI zeigten ganz erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen des Landes. Nicht nur die Größe der Unterschiede, sondern auch die regionalspezifische Verteilung der RRI waren für uns überraschend. Für weitere Untersuchungen wurden je drei Schulamtsbereiche mit den höchsten, niedrigsten und am stärksten variierenden RRI ermittelt. Die jeweils zuständigen Schulämter wurden gebeten, in einer halbstandardisierten schriftlichen Befragung Gründe für die entsprechende Situation anzugeben. Die Ergebnisse entsprachen zum Teil den oben formulierten Vermutungen, waren jedoch insgesamt nicht prägnant genug, um den Untersuchungsansatz weiterzuführen. Deutlich wurde insbesondere, dass selbst innerhalb der Schulämter mit extremen Werten erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Schulen bezüglich der erfragten Merkmalskonstellationen auftreten.

 

3. Publikationen

Burgard, P. (1998). Darstellung und Analyse des Zusammenhanges nominalskalierter Daten am Beispiel der Überrepräsentation ausländischer Schüler an deutschen Sonderschulen für Lernbehinderte (Arbeitsbericht Nr. 1, zur Publikation vorgesehen).

Kornmann, R. (1991). Förderdiagnostik für ausländische Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen in der deutschen Schule. Frankfurt/M.:Max Traeger-Stiftung (vergriffen)

Kornmann, R. (1998). Wie ist das zunehmende Schulversagen bei Kindern von Migranten zu erklären und zu beheben? Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 67, 55-68.


Kornmann, R. & Klingele, C. (1996). Ausländische Kinder und Jugendliche an Schulen für Lernbehinderte in den alten Bundesländern: noch immer erheblich überrepräsentiert und dies mit steigender Tendenz! Zeitschrift für Heilpädagogik, 47, 2-9.

Kornmann, R.; Klingele, C. & Iriogbe-Ganninger, J. (1997). Zur Überrepräsentation ausländischer Kinder und Jugendlicher in Schulen für Lernbehinderte: Der alarmierende Trend hält an! Zeitschrift für Heilpädagogik, 48, 203-207.

Kornmann, R. & Schnattinger, C. (1989). Sonderschulüberweisungen ausländischer Kinder, Bevölkerungsstruktur und Arbeitsmarktlage. Oder: Sind Ausländerkinder in Baden-Württemberg "dümmer" als sonstwo? Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 9, 195-203.

Kornmann, R. (1999). Schwierigkeiten von jungen Menschen, deren Muttersprache nicht deutsch ist, in und mit der deutschen Schule: Ansätze zur förderungsorientierten Diagnostik. Studienbrief. Fernuniversität - Gesamthochschule in Hagen.

Kornmann, R., Burgard, P. & Eichling, H.-M. (1999). Zur Überrepräsentation von ausländischen Kindern und Jugendlichen in Schulen für Lernbehinderte: Revision älterer und Mitteilung neuer Ergebnisse. Zeitschrift für Heilpädagogik, 50, 106-109.

Kornmann, R. (2001). Bericht über eine Untersuchung der Motive von Studierenden der Pädagogik, sich mit Diagnostik schulischer Probleme von Migrantenkindern zu befassen. In: G. Auernheimer, L.v.Dick, Th. Petzel & U. Wagner (Hrsg.), Interkulturalität im Arbeitsfeld Schule (S. 99 - 109) . Opladen: Leske + Budrich.

4. Vorträge / Veranstaltungen

Burgard, P. & Kornmann, R.(1998). Maße zur Bestimmung populationsspezifischer Risiken und ihre Anwendung bei Fragestellungen zum Schulversagen bei Migrantenkindern. Referat im Rahmen der Herbsttagung 1998 der Arbeitsgruppe für Empirische Sonderpädagogische Forschung am 6./7.11.1998 an der Universität zu Köln.

Kornmann, R. (1997). Die Bedeutung der Sprache als Auslesekriterium in der deutschen Schule. Referat Fachtagung "Zweisprachigkeit und Identitäsentwicklung" am 11.4.1997, veranstaltet vom Ausländerrat der Stadt Heidelberg, dem Gesundheitsamt Rhein-Neckarkreis und Heidelberg und dem Interkulturellen Elternverein Heidelberg e.V. im Gesundheitsamt Rhein-Neckar-Kreis und Heidelberg.

Kornmann, R. (1997). Weshalb ist die Präsenz der Jugendlichen ausländischer Herkunft in den Sonderschulen überdurchschnittlich hoch? Referat zur Tagung "Schulbildung und ausländische Jugendliche - schlechte Startchance für eine Berufsausbildung? Des DGB-Bundesvorstands, Abt. Internationales Referat Migration, Integration und Antidiskriminierung vom 20. - 23. 5.1997 im DGB-Bildungszentrum Niederpöcking.

Kornmann, R. (1997). Wie ist das zunehmende Schulversagen bei Kindern von Migranten zu erklären und zu beheben?. Gastvortrag am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg/Schweiz am 7.11.1997.

Kornmann, R. (1998). Zur Überrepräsentation von Migrantenkindern in den Sonderschulen für Lernbehinderte in der Bundesrepublik Deutschland. Einleitungsreferat zur Fachtagung "wenn Träume zerplatzen - immer mehr Migrantenkinder in Sonderschulen" am 29.4.1998 in Bremen, veranstaltet von der Arbeitsgruppe für Interkulturelles Lernen in der GEW und der Ausländerbeauftragten des Landes Bremen.

Kornmann, R. (1998). Die schulische Situation von ausländischen Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland. Referat am 7.5.1998 im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Integrationspädagogisches Kolloquium" des Landesinstituts für Pädagogik und Medien des Saarlandes in Zusammenarbeit mit der Arbeitseinheit Sonderpädagogik der Universität des Saarlandes.

Kornmann, R. (1998). Ausländische Kinder und Jugendliche in Regel- und Sonderschulen. Diskussionsbeitrag zur Arbeitsgruppe gleichen Titels beim GEW-Kongress "Integration ist Menschenpflicht" am 9.10.1998 in Bonn.

Kornmann, R. (1998). Warum ist das Schulversagen italienischer Schüler in Deutschland nach wie vor überdurchschnittlich hoch? Vortrag anlässlich der Konferenz "Für den schulischen Erfolg italienischer Schüler in Deutschland." Scuola e Cultura, Frankfurt/M., 24./25.10.1998.

Kornmann, R. (1998). Motive von Studierenden der Pädagogik, sich mit der Diagnostik schulischer Probleme von Migrantenkindern zu befassen. Beitrag zum Abschlusskolloquium des von der Stiftung Volkswagenwerk geförderten Forschungsprojekts "Interkulturelle Erziehung an Schulen: Einstellungen und Erfahrungen von Lehrerinnen und Lehrern" am 30.10.1998 an der Philipps-Universität Marburg.

Kornmann, R. (1999). Ausländische Kinder und Jugendlichein Sonderschulen für Lernbehinderte des Landes Schleswig-Holstein - Statistische Befunde und Analysen. Einleitungsreferat zur Arbeitstagung "Probleme bei der Beschulung von Migrantenkindern unter besonderer Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte", veranstaltet vom Landesinstitut Schleswig-Holstein für Praxis und Theorie der Schule am 18.2.1999 in Neumünster.

Kornmann, R. (Publikation in Vorbereitung): Unterstützung menschlicher Entwicklung bei kultureller Vielfalt als pädagogische Aufgabe. Beitrag zur Ringvorlesung „Inter-/Transakulturelle Bildung im Kontext von Migration und Inklusion am 06. 11. 2017, Pädagogische Hochschule Heidelberg. WS 2017 /18