Die sehr umfangreiche Studie ist der Frage gewidmet, wie sich die Sprachlernbedingungen von zweisprachigen Migrantenkindern in pädagogisch vertretbarer Weise gestalten lassen. Als theoretischen Bezugspunkt greift die Autorin auf einen handlungstheoretischen Sprachbegriff zurück, der von Welling (1990) im Rahmen der Kooperativen Pädagogik (Jetter, 1985) entwickelt wurde. Ein sicherlich sehr entscheidender Gesichtspunkt ist dabei, dass Sprache vor allem unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, ob und inwieweit ihr Erwerb und ihr Gebrauch zur Erweiterung menschlicher Denk- und Handlungsmöglichkeiten beitragen - und zwar im je individuellen Fall im Rahmen der konkreten Lebensbedingungen und vor dem Hintergrund der persönlichen Biografie. Die in diesem Zusammenhang erforderlichen inhaltlichen Präzisierungen, welche die Autorin vornimmt, sind zwar wohl primär der Kooperativen Pädagogik verpflichtet, haben aber auch deutliche Gemeinsamkeiten einerseits mit der von Klaus Holzkamp (1993) herausgearbeiten Denkfigur des Lernens vom "Standpunkt des Subjekts" und andererseits mit den allgemeinpädagogischen Positionen von Hans-Jochen Gamm und seiner Schule (vgl. Bernhard & Rothermel, 1997). Gemeinsam ist diesen beiden Denkrichtungen das Anliegen, die Subjekte zu stärken. Sie klären auf über gesellschaftlich vermittelte, im pädagogischen Alltagsgeschehen meist als "selbstverständlich" hingenommene und daher oft nicht weiter beachtete Mechanismen und Bedingungen, welche entsubjektivierende und diskriminierende Wirkungen haben und somit die Persönlichkeitsentwicklung behindern. Allerdings fehlen diesen kritischen Ansätzen weitgehend Verbindungen zur pädagogischen Praxis. Diesem Defizit - das die wohl weniger bekannte Kooperative Pädagogik offensichtlich nicht aufweist - begegnet die Autorin auf zwei Wegen:
· Zum einen klopft sie systematisch wichtige Bezugswissenschaften, mit deren Ergebnissen sich die verschiedenen Inhalte, Ziele und Methoden praktischen(!) pädagogischen Handelns bei zweisprachigen Kindern von Migranten begründen lassen, auf solche Aussagen ab, welche die Geschichtlichkeit und Entwicklungsfähigkeit des Subjekts im Rahmen seiner konkreten Lebensumstände ignorieren und damit reduktionistischen und behindernden praktischen Konzepten Vorschub leisten, und sie weist zugleich auf Erkenntnisse hin, die dieser Gefahr widerstehen. Das Spektrum der so aufgearbeiteten Aspekte ist außerordentlich breit. Die Autorin entfaltet es zunächst unter dem Gegenstandsbereich der Migration und ihrer Folgen in seinen historischen und soziologischen, sprachgeschichtlichen, linguistischen und spracherwerbstheoretischen sowie bildungstheoretischen, pädagogischen und didaktischen Dimensionen, um es dann auf das Thema der kindlichen Zweisprachigkeit als sprachpädagogische und sprachbehindertenpädagogische Herausforderung zu zentrieren.
· Zum anderen beschreibt und analysiert die Autorin ihre eigene pädagogische Arbeit mit einem zweisprachig aufwachsenden Kind von Migranten im Vorschulalter, das sie kontinuierlich über einen Zeitraum von 18 Monaten hinweg betreut hat. Die Darstellung umfasst sowohl das eigene pädagogische Handeln als auch - damit zusammenhängend - eine Beschreibung pädagogisch relevanter Geschehnisse und Bedingungen im familiären Umfeld und im Kindergarten sowie die Bemühungen, gemeinsam mit den Eltern und der Erzieherin den Möglichkeitsraum für entwicklungsförderliche Bedingungen auszuloten und zu erweitern. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen formuliert die Autorin in verallgemeinerbaren Aussagen, die sie dann wieder in die zuvor dargestellten theoretischen Konzepte einbindet. Besonders interessant ist hierbei die Verbindung des handlungstheoretischen Zugangs mit der biografischen und lebensweltlichen Analyse. Das erkenntnistheoretische innovative Potenzial eines solchen Ansatzes hat kürzlich Götz-Hege (2000) - übrigens ähnlich wie die Autorin - im Zusammenhang mit der Darstellung und Analyse einer mehrjährigen pädagogischen Begleitung eines jungen Menschen, die diesen aus einer sehr problematischen Lebenssituation herausführte - aufgezeigt.
Die Autorin hat, wie sie anmerkt, sechs Jahre lang daran gearbeitet, um diese Schrift vorzulegen. Nicht nur die Menge und Vielfalt, sondern - vor allem - auch die Gründlichkeit der darin dokumentierten Erkenntnisse zeigen, dass die Autorin diese Zeit sehr intensiv und effektiv genutzt haben muss. Der besondere Wert der Arbeit besteht darin, dass sich die Verfasserin in mehreren Gebieten, die üblicherweise nur von jeweils spezialisierten Fachleuten bearbeitet und rezipiert werden, fachkundig gemacht und diese dann, kritisch aufgearbeitet, unter einer übergeordneten pädagogischen Perspektive zusammengeführt hat.
Eine solche breite und gründliche pädagogische Fundierung ist nicht nur von großer Bedeutung für die in dieser Schrift besonders adressierte Teildisziplin der "Sprachbehindertenpädagogik", sondern liefert auch wichtige Perspektiven für alle Professionen, die mit der sprachlichen Förderung der Kinder von Migranten befasst sind.
Literatur
Bernhard, A. & Rothermel, L: (Hrsg.). Handbuch Kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1997.
Götz-Hege, J. Zur Wiederentdeckung des Subjekts in der Pädagogik. Neue Wege in der heilpädagogischen Betreuung lern- und entwicklungsbeeinträchtigter Kinder und Jugendlicher. Frankfurt/M.: Lang 2000.
Holzkamp, K. Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/M.: Campus 1993
Jetter, K. Was ist Kooperative Pädagogik? Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 8 (1985) 1,2-13.
Welling, A. Zeitliche Orientierung und sprachliches Handeln. Grundlegung für ein pädagogisches Förderkonzept. Frankfurt/M.: Lang 1990.