Diagnostik von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten
Kritische Auseinandersetzung mit einer bemerkenswerten Schrift in einer
vielversprechenden Reihe zur pädagogisch-psychologischen Diagnostik
Zeitschrift für Heilpädagogik 7/2001, 291-296
MARCUS HASSELHORN, WOLFGANG SCHNEIDER und HARALD MARX zeichnen als die
Herausgeber des ersten Bandes der neuen Folge von "Tests und Trends",
dem "Jahrbuch der pädagogisch-psychologischen Diagnostik",
das nun ab dem Jahre 2000 von Hogrefe in Göttingen verlegt wird.
Die "alte" Folge mit KARLHEINZ INGENKAMP als "Senior-Herausgeber"
ist vor drei Jahren offensichtlich aufgrund abnehmenden Interesses seitens
der Leserschaft eingestellt worden. Aus meiner Sicht war dieser Schritt
vor allem deswegen bedauerlich, weil jeder Band der seit dem Jahre 1981
erschienenen Reihe eine gut systematisierte, nahezu komplette und jedes
Jahr aktualisierte Übersicht über alle verfügbaren, auf
den deutschen Sprachraum bezogenen Tests zur Pädagogischen Diagnostik
enthielt. Mit diesen Übersichten ließ sich der Inhalt des verdienstvollen
Kompendiums "Testdiagnostische Verfahren in Vor-, Sonder- und Regelschulen"
von BORCHERT, KNOPF-JERCHOW & DAHBASHI (1991) jährlich ergänzen,
und so konnte ich bei den mir immer wieder gestellten Fragen, welche Tests
es denn für bestimmte Problemstellungen gebe, stets auf diese Reihe
verweisen. Speziell für die Sonderpädagogik waren auch immer
wieder einzelne Beiträge innerhalb des meist breit gestreuten Spektrums
an Themen und Rubriken sowie die Rezensionen wichtiger Veröffentlichungen
zur Pädagogischen Diagnostik und neuer diagnostischer Verfahren interessant
und informativ.
Band 1 der neuen Folge ist nun anders konzipiert: Auf Testübersicht
und Rezensionsteil ist verzichtet worden, und statt der bisher üblichen
thematischen Mischung konzentrieren sich alle Beiträge auf einen
einzigen Problembereich. Dies hat den Vorteil, dass grundsätzlich
alle Beiträge eines Bandes den jeweils gleichen Leserkreis ansprechen.
Somit wird wohl seitens des Verlages und der Herausgeber mit einer von
Band zu Band wechselnden Leserschaft gerechnet. Thematische Mixtur, Rezensionsteil
und Testübersicht als Merkmale der früheren Bände sollten
hingegen eine eher konstante Leserschaft ansprechen. Durch den Verzicht
auf Rezensionen und Testübersicht ist nun also eine Lücke entstanden,
die auf die eine oder die andere Weise wieder gefüllt werden sollte.
Mit der Themenwahl für den ersten Band sprechen die Herausgeber nun
gleich einen sehr wichtigen Problembereich der Sonderpädagogik an.
Lese-Rechtschreibschwierigkeiten kennzeichnen dort die pädagogische
Situation eines beträchtlichen Teils der Schülerschaft und sind
oft auch Anlass für die Einleitung und Durchführung sonderpädagogischer
Maßnahmen. Im allgemeinen werden solche Maßnahmen von den
Ergebnissen diagnostischer Untersuchungen abhängig gemacht und diagnostisch
begleitet. Nach Ansicht der Herausgeber und Autoren haben allerdings die
Bemühungen um die Verbesserung und Weiterentwicklung von entsprechenden
diagnostischen Verfahren über eine lange Zeit hinweg stagniert. So
ist ein großer Teil der verfügbaren Tests bereits Anfang der
siebziger Jahre entwickelt worden und muss daher hinsichtlich der zugrundeliegenden
theoretischen Modelle zum Erwerb und Gebrauch schriftsprachlicher Kompetenzen,
der inhaltlichen Anforderungen, des Testkonzepts und der Normierungsdaten
als veraltet bezeichnet werden. Diese Einschätzung trifft sicherlich
zu, wenn man allein die psychometrischen Verfahren berücksichtigt.
Hingegen sind zahlreiche informelle diagnostische Ansätze zur Planung,
Begleitung und Kontrolle pädagogischer Vermittlungsprozesse bekannt
geworden, die sich durchaus an neueren Konzepten zum Schriftspracherwerb
orientieren - im Bereich der Sonderpädagogik wäre beispielsweise
auf die fehleranalytischen Ansätze von PROBST & WACKER (1986)
für das Lesen oder von BÖRNER (1996) für das Rechtschreiben
zu verweisen. Auf solche Ansätze gehen die Autoren des Jahrbuchs
allerdings gar nicht oder nur am Rande ein. Vielmehr sind die Beiträge
dadurch gekennzeichnet, dass sie sich an den Ansprüchen psychometrischer
Tests orientieren und sich bewusst auf psychologische Aspekte konzentrieren.
Zunächst aber ist wichtig zu wissen, dass die Herausgeber und Autoren
mit ihren Arbeitsgruppen selbst entscheidend zur Neuentwicklung der in
diesem Band dargestellten diagnostischen Ansätze und Instrumente
beigetragen haben und somit einen kompetenten, authentischen Überblick
über die theoretischen Hintergründe, die Ergebnisse und die
weiteren Perspektiven ihrer Arbeit geben können.
Im ersten, einleitenden Kapitel über "Früh-, Förder-
und Differentialdiagnostik von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten: Eine
Einführung" ordnen die drei Herausgeber die inhaltlichen Schwerpunkte
ihrer Schrift in die Forschungstradition zur Diagnostik der Legasthenie
bzw. zur Lese-Rechtschreibschwäche ein und beschreiben und begründen
vor diesem Hintergrund ihre aktuellen Ansätze. Besonders informativ
ist dabei der Hinweis auf "eine Reihe von Längsschnittstudien
..., mit deren Hilfe es möglich war, spezifische Vorläufermerkmale
der Lese- und Rechtschreibleistungen zu identifizieren. ... Die Ergebnisse
dieser Studien haben die LRS-Diagnostik in zweierlei Hinsicht entscheidend
verändert. Zum einen belegen sie, dass Merkmale der phonologischen
Informationsverarbeitung in vorher kaum geahntem Ausmaß für
den erfolgreichen Schriftspracherwerb von Relevanz sind. Zum anderen wurde
deutlich, dass die traditionelle Lese-Rechtschreibdiagnostik vermutlich
viel zu spät zu einer Identifizierung von LRS-Kindern führt.
Die Spuren dieser Einsicht finden sich in nahezu allen Beiträgen
des vorliegenden Bandes" (S. 2f).
Diese Aussage trifft vor allem den inhaltlichen Kern des zweiten Kapitels
über "Prognostische, differentielle und konkurrente Validität
des Bielfelder Screenings zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten
(BISC)" von HARALD MARX, HEINER JANSEN und HELMUT SKOWRONEK. Zunächst
referieren die Autoren die Ergebnisse ihrer gründlichen und kritischen
Studien der einschlägigen Literatur zu der Frage, mittels welcher Merkmale
sich bereits im Vorschulalter spätere Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten
prognostizieren lassen. In einem nächsten Schritt wird berichtet, wie
die verschiedenen in Betracht kommenden Verfahren, also die potenziellen
Prädiktoren, auf ihre Eignung untersucht worden sind. So sind sie in
einer sorgfältig geplanten Längschnittstudie unter der Fragestellung
geprüft worden, wie gut ihr Beitrag zur Vorhersage vorab definierter
Kriterien sei. Dabei haben die Autoren zwischen spezifischen Kriteriumsleistungen
(Schriftsprache, Lesen, Rechtschreiben) und unspezifischen Kriteriumsleistungen
(Testintelligenz, Mathematik) unterschieden. Diese wurden gegen Ende des
zweiten Grundschuljahres erfasst, während die potenziellen Prädiktoren
zweimal, zehn Monate und vier Monate vor der Einschulung, erhoben wurden.
Insgesamt sind zu Zwecken einer solchen längschnittlichen Validierung
2400 Kinder untersucht worden. Durch diese Prozedur sollten solche Prädiktoren
identifiziert werden, die deutlich höher mit den spezifischen Kriteriumsleistungen
korrelierten als mit den unspezifischen. Aber auch die Prädiktoren
selbst wurden eingeteilt in spezifische, unspezifische und konfundierte:
"Als spezifische Prädiktoren wurden solche Merkmalsbereiche bezeichnet,
die erstens noch nicht durch Lese- und Schreibfertigkeiten beeinflusst sind
und zweitens Aufgabenstellungen umfassen, die überwiegend beim Erwerb
der Schriftsprache von Bedeutung sind und weniger beim Erwerb anderer Fertigkeiten
zum Einsatz kommen. ... Als unspezifische Prädiktoren wurden alle Fertigkeiten,
Fähigkeiten und Merkmalsbereiche aufgefasst, die sowohl an der Entwicklung
der vorherzusagenden als auch von anderen Kriteriumsleistungen, wie z.B.
Mathematik beteiligt sind. ... Als konfundierter Prädiktor wird die
vorschulische Buchstabenkenntnis behandelt. Sie gehört in (korrelativ
ausgewerteten) Längsschnittstudien zu den besten Prädiktoren "
(S. 17f). Mit dieser klug durchdachten und eleganten Versuchsplanung gelangen
zwei überzeugende Nachweise der Validität:
- die spezifischen Prädiktoren sind zur Vorhersage der spezifischen
Kriterien, also der schriftsprachlichen Leistungen, wesentlich besser
geeignet als die unspezifischen und konfundierten Prädiktoren,
- mittels der spezifischen Prädiktoren lassen sich die spezifischen
Kriterien besser als die unspezifischen Kriterien (Mathematikleistungen
und Testintelligenz) vorhersagen.
Bei den spezifischen Prädiktoren handelt es sich um vier Verfahren
zur Prüfung der phonologischen Bewusstheit und um fünf Verfahren
zur Prüfung von Aufmerksamkeit und Gedächtnis bezüglich
einfachen Wortmaterials. Diese neun Verfahren bilden das "Bielefelder
Sreening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC)"
von JANSEN, MANNHAUPT, MARX & SKOWRONEK (1999).
Ganz ähnliche inhaltliche Anforderungen sind bereits in den "Lese-
und Schreibaufgaben für Schulanfänger" von BRÜGELMANN
(1986) enthalten. Darin findet sich u.a. eine Gruppe von Aufgaben, von
BRÜGELMANN (1986, S. 49) als >Wort-"Ähnlichkeit"<
bezeichnet. Diese scheint in nahezu idealer Weise die Prüfung von
phonologischer Bewusstheit und Aufmerksamkeit für visuell dargebotenes
Wortmaterial miteinander zu verbinden. Den des Lesens noch nicht kundigen
Kindern werden dabei zwei grafische recht ähnliche Wortbilder, z.B.
>Schule< und >Schuh< simultan präsentiert. Eines davon
wird ihnen vorgelesen und gleichzeitig identifiziert, z.B. "Dieses
Wort hier heißt >Schule<". Danach sollen die Kinder aus
zwei verbal gebotenen Möglichkeiten, "raten", was auf der
anderen Karte steht, in diesem Falle beispielsweise >Schuh< oder
>Lehrer<. Bei Kindern, die dabei das grafisch und lautlich ähnliche
Wortbild >Schuh< deuten, ist - bei weiterer Bestätigung dieses
Antwortmusters - anzunehmen, dass sie ihre Aufmerksamkeit sehr bewusst
und mit Erfolg auf die Laut-Zeichen-Ähnlichkeit gerichtet und sich
somit nicht an der zunächst naheliegenden Ähnlichkeit der Bedeutungen
orientiert haben. Es wäre interessant zu erfahren, warum diese Aufgaben
nicht in die engere Wahl bei der Auswahl der spezifischen Prädiktoren
genommen wurden.
Mit der beschriebenen korrelationsstatistisch abgesicherten Validierung
ließen es die Autoren allerdings nicht bewenden. Darüber hinaus,
so wird in dem Artikel berichtet, untersuchten sie an einer Stichprobe
von 153 Kindern, wie gut sich das Verfahren zur individuellen Klassifikation
eignet. Das Verfahren erwies sich dabei gegenüber einer nach dem
Zufallsprinzip vorgenommenen Vorhersage als deutlich überlegen.
Ergänzend zu den Ausführungen der Autoren lässt sich auch
feststellen, dass die Anwendung des Verfahrens weniger Fehlklassifikationen
(nämlich zwölf) liefert als der ja auch mögliche Verzicht
auf dasselbe (nämlich 26) - ein Qualitätsmerkmal, das beispielsweise
sogenannte Schulreifetests früher nicht erfüllt haben (KORNMANN,
1972; TIEDEMANN, 1974). Die zwölf fehlklassifizierten Kinder teilten
sich in zwei gleich große Gruppen auf: Bei sechs Kindern waren aufgrund
ihrer unauffälligen Testergebnisse keine Probleme beim Schriftspracherwerb
zu erwarten, was sich aber leider nicht bestätigte, und bei sechs
anderen erfüllten sich die ungünstigen Prognosen des BISC zum
Glück nicht. Es wäre nun von hohem theoretischen und praktischen
Interesse, die Gründe für diese Fehlklassifikationen zu erfahren.
Bei entsprechenden Aufklärungsversuchen hätten die Autoren ihr
eng abgestecktes Terrain - Beschränkung auf den psychometrischen
Ansatz und rein psychologische Erklärungen - wohl überschreiten
müssen und etwa folgende Überlegungen anstellen können:
Die sechs Kinder mit ungünstiger Prognose waren vielleicht in der
aktuellen Testsituation nicht bereit oder in der Lage gewesen, ihr tatsächliches
Leistungspotenzial zu zeigen, oder sie könnten das Glück gehabt
haben, dass ihre möglicherweise unzureichenden Lernvoraussetzungen
durch den Einsatz angemessener pädagogischer Vermittlungsmethoden
(vgl. RÖBER-SIEKMEYER, 1997; SASSENROTH, 1998) kompensiert worden
sind. Umgekehrt könnten die sechs Kinder mit günstiger Prognose
das Pech gehabt haben, dass bei ihnen ungünstige Bedingungen für
den Schriftspracherwerb eintraten, die sich im Test nicht zeigten und
denen im Unterricht auch nicht wirksam begegnet wurde oder dass Merkmale
der Unterrichtsgestaltung selbst oder außerschulische Einflüsse
zum Versagen beitrugen.
Trotz des Verzichts auf solche, sicherlich relevanten pädagogischen
Überlegungen ist dieses Kapitel für die sonderpädagogische
Diagnostik von richtungsweisendem Interesse:
- Es setzt methodische und inhaltliche Maßstäbe für
die Entwicklung solcher Tests, die valide Prognosen des individuellen
Lernerfolgs ermöglichen sollen.
- Die Prädiktoren erfassen umschriebene Merkmalsbereiche, die sich
- im Falle ungünstiger Ausprägung - gezielt beeinflussen lassen
und damit Ansätze für erfolgversprechende Interventionen bieten.
Tatsächlich verweisen die Autoren auf entsprechende empirische
Belege für die Wirksamkeit solcher gezielter Hilfen.
- Es ist überzeugend dargelegt worden, dass das BISC sonderpädagogischen
Fachleute, die mit Kindern im Vor- und Einschulungsalter arbeiten, eine
wertvolle Erweiterung der diagnostischen Denk- und Handlungsmöglichkeiten
darstellt.
Nicht weniger eindrucksvoll und lehrreich ist das dritte Kapitel "Knuspels
Leseaufgaben: Theorie, Umsetzung und Überprüfung" von HARALD
MARX. Hierin werden die Grundgedanken und Ergebnisse der langjährigen
Arbeit zur Entwicklung von "Knuspels Leseaufgaben (Knuspel L)"
von MARX (1998) beschrieben. "Knuspel" ist übrigens ein
im Testheft in verschiedenen Varianten gezeichneter Kopffüßler,
auf den die Aufgaben für die Kinder laufend Bezug nehmen. Gegenüber
den bisher veröffentlichten Lesetests zeichnet sich dieses Verfahren
durch mehrere Vorzüge aus:
- es geht von einem theoretisch fundierten Modell der Leseentwicklung
aus
- aufgrund des Entwicklungsbezugs sind Anforderungen für sehr unterschiedliche
Schwierigkeitsstufen vorgesehen
- auch inhaltlich unterscheiden sich die Testanforderungen, entsprechend
dem theoretischen zu Grunde gelegten Modell der Leseentwicklung, sehr
deutlich voreinander.
Das Entwicklungsmodell sieht vor, dass die Fähigkeit, Lesetexten
den intendierten Sinn zu entnehmen, also das Leseverstehen, auf zwei wichtigen
Voraussetzungen beruht: zum einen auf der spezifischen Lesefertigkeit
des Dekodierens, die ihrerseits die Fertigkeit des Rekodierens voraussetzt,
und zum anderen auf der allgemeineren Fähigkeit des Hörverstehens.
Folglich setzt sich der Test aus vier Subtests, Rekodieren, Dekodieren,
Hörverstehen und Leseverstehen, zusammen.
Die Aufgaben zum Hörverstehen erfordern, ähnlich wie der ASVT
von KLEBER & FISCHER (1982), das Verstehen mündlich gestellter
Fragen und Aufforderungen sowie - ganz entscheidend! - die sachgerechte
Beantwortung der Fragen bzw. die angemessene Ausführung der Aufforderungen,
und zwar alles mittels Papier und Bleistift in dem dafür vorgesehehen
Testheft. Lese- und Schreibfertigkeiten sind zwar nur in sehr geringem
Ausmaß erforderlich, wohl aber das Vertrautsein mit Papier und Bleistift
und die Orientierung in dem Testheft. Beim Subtest Rekodieren werden den
Kindern jeweils zu lesende Wortpaare geboten, die entweder lautgleich
(z. B. >Meer< / >mehr<) oder, trotz Ähnlichkeit auf Graphemebene,
lautverschieden (z.B. >alte< / >alle<) sind. Die Kinder sollen
bei jedem Wortpaar durch ein Plus- oder Minuszeichen kennzeichnen, ob
sich die beiden Wörter gleich (+) oder verschieden ( - ) anhören.
Der Subtest Dekodieren konfrontiert die Kinder mit einer Folge einzelner
Pseudowörter. Von diesen sind einige zwar sinnvoll, aber nicht nach
den Regeln der Orthographie verschriftet (z.B. >Rogg< oder >Doose<).
Diese sinnvollen Wörter sollen die Kinder durch ein Pluszeichen identifizieren
und von den nicht sinnvollen Pseudowörtern, die ebenfalls präsentiert
werden (z.B. >Fedder< oder >Knape<) unterscheiden. Die Aufgaben
des Untertests Leseverstehen sind im Hinblick auf die Aufgabenstellungen
und den Lösungsmodus ähnlich konzipiert wie die zum Hörverstehen,
jedoch müssen hier die Fragen und Aufforderungen in dem Testheft
gelesen werden.
Von ganz ähnlichen theoretischen Überlegungen wie MARX (1998)
haben sich auch PROBST & WACKER ( 1986) bei der Erstellung ihrer Kategorien
für die Fehleranalysen bei lauten Leseproben leiten lassen. Der Vorteil
der Methode von PROBST & WACKER (1986) ist darin zu sehen, dass die
Kategorien unabhängig von den Inhalten und Schwierigkeisstufen der
gewählten Texte angelegt werden können und sich stets bei gleichen
oder auch neuen Texten in gleicher Form anwenden lassen. Der Vorteil von
"Knuspels Leseaufgaben" als Gruppentest besteht demgegenüber
in der wesentlich größeren Ökonomie und den leichten interindividuellen
Vergleichsmöglichkeiten. Die vielfältigen Zusatzauswertungen
lassen zudem ähnlich differenzierte lesediagnostische Aussagen zu
wie das Verfahren von PROBST & WACKER (1986). Für die sonderpädagogische
Diagnostik ist dieser Test auch deswegen interessant und anregend, weil
die gestellten Anforderungen von den traditionellen Methoden, mit denen
üblicherweise der Stand der Lesefertigkeit überprüft wird,
erheblich abweichen und somit neue Perspektiven für eine differenzierte
und theoretisch fundierte Urteilsbildung ermöglichen.
Demgegenüber enthält der "Salzburger Lese- und Rechtschreibtest
(SLRT)" von LANDERL, WIMMER & MOSER (1997) eher konventionelle
Aufgabenstellungen. Über diesen Test informiert KARIN LANDERL, teilweise
in sehr enger Anlehnung an die Ausführungen im Testhandbuch, im anschließenden
vierten Kapitel. Der SLRT "... wurde mit der Zielsetzung entwickelt,
Defizite in der Entwicklung der Lese-/ und oder Rechtschreibleistungen
zu erfassen, daher wurden die Aufgabenanforderungen so angelegt, dass
vor allem Unterschiede im unteren Leistungsbereich zuverlässig diagnostiziert
werden können" (S.64). Normwerte, gewonnen an 2000 Kindern für
den Lesetest und 3000 Kindern für den Rechtschreibtest, sind für
fünf Messzeitpunkte (zwischen Ende des 1. Schuljahres, Mitte und
Ende des 2. Schuljahres sowie für das 3. und 4. Schuljahr) erstellt
worden. Somit deckt auch dieser Test einen ähnlich weiten Anwendungsbereich
wie "Knuspels Leseaufgaben" ab. Dementsprechend sieht das Testkonzept
vor, "Störungen der Teilkomponenten des Lesens und Rechtschreibens
auf verschiedenen Lernstufen" (S. 65) zu erfassen. Beim Lesen werden
drei Lernstufen unterschieden:
- synthetisches Lesen auf Wortebene
- automatische direkte Worterkennung
- Textlesen.
Zur Prüfung des synthetischen Lesens werden den Kindern zwei Listen
von Pseudowörtern vorgegeben, wobei es sich bei der ersten Liste,
die auch für die Kinder des 1. Schuljahres vorgesehen sind, um "wortunähnliche"
Zusammensetzungen handelt (z.B. >talire>, >holotu<), bei der
zweiten Liste sind die Pseudowörter "wortähnlich"
(z.B. >Natze<, >olt<). Solche Pseudowörter können
also nur durch synthetisierendes Vorgehen richtig erlesen werden, mögliche
andere Strategien (Wiedererkennen des Wortbildes, Erschließen des
gesamten Wortes aufgrund eines Wortteils) sind somit ausgeschlossen. Die
direkte Worterkennung wird ebenfalls mit Hilfe von Wortlisten überprüft.
Dabei handelt es sich zum einen um eine Liste "häufiger Wörter"
(wie z.B. >Katze<, >alt<) und zum anderen (nur für das
3. und 4. Schuljahr vorgesehen, um "zusammengesetzte Wörter"
(wie z.B. >Schultasche<, >Farbkreide<). Alle Wörter sollen
nacheinander möglichst schnell und fehlerfrei laut vorgelesen werden.
Notiert werden benötigte Zeit und Anzahl der Fehler pro Wortliste.
Das "Textlesen" wird bei den jüngeren Kindern (1. und 2.
Schuljahr) mittels eines kurzen Textes (30 Wörter) und bei den älteren
Kindern mittels eines längeren Textes (57, zum Teil recht lange Wörter)
geprüft. Auch hier werden die benötigte Zeit und die Anzahl
der Fehler ermittelt. Fehleranalysen sind nicht vorgesehen. Differenzierte
Auswertungen sind jedoch auf der Grundlage von intraindividuellen Vergleichen
bezüglich der einzelnen Untertests möglich. LANDERL deutet in
diesem Zusammenhang an, dass bei bestimmten Diskrepanzen spezifische Hypothesen
naheliegen, denen dann weiter nachzugehen sei. Allerdings liefert nur
das Testhandbuch bezüglich dieser gerade für die Sonderpädagogik
so wichtigen Aufgaben nähere Informationen und auch Hinweise auf
praktische Hilfen.
Die Rechtschreibleistungen werden anhand konventioneller Lückentexte
geprüft, wobei jeder schriftlich vorgegebene Satz eine Lücke
für ein diktiertes Wort enthält, das an dieser Stelle einzutragen
ist. Im Unterschied zu den Lesetests, die nur in Einzeluntersuchungen
durchgeführt werden können, lässt der Rechtschreibtest
Gruppenuntersuchungen zu. Es gibt zwei Versionen: eine kürzere mit
25 kritischen Wörtern für Kinder des 1. und 2. Schuljahres und
eine längere, die darüber hinaus noch 24 weitere Wörter
aufweist. Nahezu alle ausgewählten Wörter erfordern für
die korrekte Verschriftung eine Überwindung der alphabetischen Strategie
und eine Orientierung an orthographischen Regeln (Markierung von langen
und kurzen Vokalen, Ableitungen aus Stammmorphemen, Kenntnis gebräuchlicher
Graphemfolgen und der Schreibung häufig verwendeter Morpheme). Gleichwohl
sollen fehlerhafte Produktionen auch unter der Frage analysiert werden,
inwieweit eine lautorientierte Verschriftung gelingt. Auf differenzierte
Fehleranalysen wurde jedoch verzichtet, weil der dafür erforderliche
Aufwand angesichts der niedrigen Reliabilität der Ergebnisse zu hoch
sei.
Mit dem SLRT, der insbesondere im unteren Leistungsbereich gut differenziert,
lässt sich die Leistungsentwicklung der untersuchten Kinder über
einen Zeitraum von drei Jahren hinweg anhand identischer Kriterien und
auf der Grundlage von Normen, die für fünf verschiedene Zeitpunkte
gelten, beobachten. Daher dürfte er für den Einsatz in Sonderschulen
(insbesondere in Schulen für Lernbehinderte) besonders hilfreich
sein, um den Erfolg der pädagogischen Bemühungen zu dokumentieren
und nötigenfalls zu verbessern.
Im fünften Kapitel stellen PETRA KÜSPERT & WOLFGANG SCHNEIDER
die von ihnen entwickelte "Würzburger Leise Leseprobe (WLLP)"
vor und geben einige Hintergrundinformationen zur Testentwicklung (KÜSPERT
& SCHNEIDER, 1998). Auch die WLLP ist über drei Schuljahre hinweg
(Ende 1. Klasse bis 4. Klasse) einsetzbar, und so liegen für jede
dieser Klassenstufen geschlechtsspezifische Prozentrangnormen vor, die
an Stichproben zwischen 285 und 363 Kindern gewonnen wurden. Der Test
ist außerordentlich zeit- und arbeitsökonomisch: Er lässt
sich als Gruppentest durchführen, wobei die reine Testzeit genau
5 Minuten beträgt. In dieser Zeit sollen die untersuchten Kinder
möglichst viele der von ihnen zu lesenden Wörter den entsprechenden
Bilddarstellungen durch Ankreuzen zuordnen, wobei ihnen jeweils vier Alternativen
geboten werden. Neben der Abbildung des Zielwortes enthalten die Alternativen
solche Distraktoren, die phonologisch und semantisch ähnliche Wörter
darstellen. Die beiden Parallelformen des Tests bestehen aus jeweils den
gleichen 140 Items, die allerdings in veränderter Reihenfolge präsentiert
werden. Deshalb sprechen die Autoren von "Pseudo-Paralleformen".
Die dargebotenen Wörter sind ein- bis viersilbig und sollen - nach
Angaben der Autoren - Grundschulkindern geläufig sein. Vor dem Einsatz
in Schulen für Lernbehinderte wäre diese Voraussetzung allerdings
zu überprüfen. Immerhin ist hier mit einem hohen Anteil von
Migrantenkindern zu rechnen, die Schwierigkeiten mit der Zweitsprache
Deutsch haben (vgl. KORNMANN, BURGARD & EICHLING, 1999). Selbstverständlich
ließe sich die WLLP ja auch als informeller Wortschatztest durchführen,
indem die Lehrperson die schriftsprachlich vorgegebenen Zielwörter
verbalisiert und die Kinder diese anhand der Bilder identifizieren müssen.
Auch in Klassen und Altersgruppen, für die keine Normwerte mehr vorliegen,
lässt sich die WLLP als informeller Test anwenden, wenn man die Leistungsentwicklung
der Kinder über einen längeren Zeitraum hinweg dokumentieren
will. Dafür genügt die wiederholte Ermittlung der individuellen
Rohwerte (für jede richtige Identifizierung ein Punkt), wobei man
sinnvollerweise die beiden Parallelformen im Wechsel darbietet oder durch
Vertauschen der Seiten weitere Parallelformen generiert.
Im Unterschied zu den vorher beschriebenen Testverfahren besteht die WLLP
aus einer einzigen Testskala, wobei die Anforderungen auf einen sehr eng
umschriebenen Aspekt der Lesefertigkeit bezogen sind . Folglich wird der
theoretische und praktische Anspruch dieses Tests auch wesentlich niedriger
angesetzt als bei den zuvor beschriebenen Verfahren. Die Autoren können
aber aufgrund fundierter theoretischer Annahmen und der zumindest befriedigenden
Ergebnisse ihrer eigenen Validierungsstudien überzeugend darlegen,
dass die WLLP ein valides Globalmaß für den Stand der individuellen
Lesefertigkeit liefert - und dies mit äußerst geringem Erhebungsaufwand.
Das sechste Kapitel von PETER MARX & WOLFGANG SCHNEIDER ist ein Werkstattbericht,
der über den schon sehr weit fortgeschrittenen Stand der theoretischen
Aufarbeitung einschlägiger Literatur und der umfangreichen eigenen
empirischen Untersuchungen zur "Entwicklung eines Tests zur phonologischen
Bewussheit im Grundschulalter" informiert. Gerade bei Kinder mit
Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb ist diesem Aspekt erhöhte
Aufmerksamkeit zu schenken, was sich auch in der Entwicklung geeigneter
diagnostischer Instrumente niederschlagen sollte. Hierauf gehen die Autoren
auch selbst in der Diskussion ihres Vorhabens intensiv und mit vielen
wichtigen Argumenten und Überlegungen ein. Insofern ist dieses Kapitel,
obwohl das darin beschriebene Verfahren noch nicht gebrauchsfertig vorliegt,
auch und gerade für sonderpädagogische Fachleute äußerst
aufschlussreich und interessant. Ohnehin meine ich, dass gerade Werkstattberichte
dem besonderen Anliegen von Jahrbüchern gut entsprechen und hier
ihren bevorzugten Platz finden sollten, halten sie doch die Leserschaft
besonders gut auf dem Laufenden über aktuelle Themen und Vorhaben.
Bis zu diesem sechsten Kapitel entsprechen die Themen und Inhalte der
Schrift noch weitgehend den Erwartungen, die man an ein "Jahrbuch
der pädagogisch-psychologischen Diagnostik" stellen mag. Als
besonders erfreulich finde ich, dass sich alle Beiträge von inhaltlichen
und theoretischen Überlegungen leiten lassen und Gesichtspunkte der
Praktkabilität immer mitbedacht werden, ohne von den notwendigen
messtechnischen und erhebungsmethodischen Aspekten dominiert zu werden.
Zwar kann auch für die hier vorgestellten Tests das Verdikt von SCHULTE
(1976) zutreffen , dass in der Testdiagnostik die Fragestellungen durch
die Methoden diktiert würden (was JÜTTEMANN, 1983, S. 36, als
"Inversionsprinzip" kennzeichnet), aber ich denke, die hier
durch Tests induzierten Fragestellungen sind als präzise und problemangemessen
einzuschätzen und eröffnen möglicherweise manchen Anwendern
neue Perspektiven auf den Problembereich.
So, als sollte die bislang sträflich vernachlässigte inhaltliche
und theoretische Arbeit im Bereich der pädagogisch-psychologischen
Diagnostik auf einen Schlag nachgeholt und damit ein deutliches Zeichen
gesetzt werden gegenüber der lange Zeit vorherrschenden Fixierung
der Testdiagnostik auf ihre instrumentellen Qualitäten, lesen sich
die restlichen Kapitel des Jahrbuches. Im Mittelpunkt der vier folgenden
Abhandlungen stehen kognitionstheoretisch begründete Untersuchungen
von Problemen, die in einen mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang
mit wichtigen Detail-Fragen des beeinträchtigten und problemlosen
Erwerbs und Gebrauchs von Schriftsprache gebracht werden. Dabei werden
dann auch Ansatzpunkte und methodische Möglichkeiten zur Klärung
dieser Fragen herausgearbeitet, so dass der Bezug zur Diagnostik zwar
erkennbar wird, aber nicht unbedingt im Vordergrund steht. Diese Einschätzung
wird sicher auch schon aus den Titeln deutlich:
Kapitel sieben: "Ist das >Nachsprechen von Kunstwörtern<
für die Entwicklungsdiagnostik des phonologischen Arbeitsgedächtnisses
geeignet?" ,
Kapitel acht: "Phonologisches Arbeitsgedächtnis und Leseleistungen.
Ein Vergleich zwischen dysphasisch-sprachentwicklungsgestörten und
sprachunauffälligen Kindern",
Kapitel neun: "Spielt der phonetische Speicher des Arbeitsgedächtnisses
eine bedeutsame Rolle für die Differentialdiagnose von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten?
Analysen zum >Kunstwörter-Nachsprechen< bei Kindern mit LRS-
und/oder HKS-Diagnose",
Kapitel zehn: "Theoretisches Rahmenmodell für ein Diagnostikum
zur differentiellen Funktionsanalyse des phonologischen Arbeitsgedächtnisses".
Alle vier Kapitel wurden von MARCUS HASSELHORN und Mitgliedern seiner
Arbeitsgruppe verfasst.
Das letzte Kapitel wurde von HARALD MARX geschrieben und beinhaltet "Anspruch,
Notwendigkeit, Realisierung und Alternativkonzeption der Schriftsprachförderung
im Sekundarbereich". Ein Bezug zur Diagnostik fehlt hier weitgehend.
Gerade für Lehrkräfte an Sonderschulen bietet es eine Reihe
solider Informationen zur Thematik. Sie gipfeln in der gut begründeten
These "Rechtschreiben lernt man durch richtiges Wortlesen".
Hierauf baut die alternative Förderkonzeption auf, die auch anhand
praktischer Hinweise zur Umsetzung kurz beschrieben wird.
Ein großer Teil des Buches, das aufgrund von Titel und Buchreihe
dem Arbeitsgebiet der Diagnostik zuzuordnen ist, enthält also Darstellungen,
deren Inhalte weit über den Rahmen eben dieser Disziplin hinausweisen
und ein vertieftes inhaltliches Verständnis erfordern. Einen Teil
der Leserschaft mag dies überraschen, vielleicht auch befremden oder
provozieren, wurde doch bislang versucht, ein fachliches Selbstverständnis
der Diagnostik als eigenständige Disziplin allein über die Orientierung
an formalen Merkmalen zu gewinnen. Offensichtlich wollten die Herausgeber
vor allem eines demonstrieren: Für die Entwicklung guter diagnostischer
Instrumente reicht es nicht aus, wenn der betriebene Arbeitsaufwand lediglich
in die Erfüllung technischer und formaler Gütekriterien investiert
wird, und die sinnvolle Anwendung eben solcher Instrumente erfordert wesentlich
mehr als nur die als Routinen ausgegebene Beachtung von Regeln zur Durchführung,
Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten. Konsequent zu Ende
gedacht, würde eine solche Auffassung dazu führen, den Anspruch
auf Eigenständigkeit der Diagnostik als Disziplin aufzugeben und
ihr nur noch nachgeordnete Arbeitsanteile in den verschiedenen, inhaltlich
definierten Aufgabenfeldern zuzuweisen. Dieser Gedanke, das "Prinzip
der Subsidiarität in der pädagogischen Diagnostik" (FLAMMER
& GUTMANN, 1977, S. 88) zu betonen, ist zwar nicht neu, fand aber
bisher wenig Beachtung. Daher wäre es zumindest erwägenswert
gewesen, ob eine solche offensichtlich "in der Luft liegende"
Thematik mit ihren verschiedenen wissenschaftlichen Facetten nicht auch
eigens in diesem Jahrbuch hätte thematisiert werden sollen - eventuell
auch auf Kosten eines der letzten Kapitel. - Damit hätte ich bereits
die möglichen Desiderata angesprochen.
Das neue Jahrbuch belegt eindrucksvoll die deutlichen Fortschritte, welche
in den letzten Jahren im Bereich der Lese-Diagnostik erzielt wurden. Bezüglich
der Rechtschreib-Diagnostik wird hingegen der Eindruck vermittelt, dass
der theoretische Entwicklungsstand etwa dem Niveau des entsprechenden
Untertests des SLRT sowie ähnlich konzipierter Tests wie etwa denen
von BIRKEL (1994a, 1994b, 1995) entspräche. Dies stimmt aber nur,
wenn man allein die psychometrischen Tests berücksichtigt. Theoretisch
sehr fundierte Überlegungen zur Rechtschreibdiagnostik, die konzeptionell
den im Jahrbuch dargelegten Ausführungen zur Lesediagnostik entsprechen,
hat vor längerer Zeit bereits PROBST (1989) mit dem "Inventar
impliziter Rechtschreibregeln (IiR)" vorgelegt. Es handelt sich dabei
um ein informelles Verfahren, bei dem der individuelle Lernstand auf ein
Strukturmodell zum Erwerb orthographischer Kompetenzen bezogen wird und
insofern zur Planung, Begleitung und Evaluation von Lehr-Lernprozessen
in der Praxis völlig ausreichende Informationen liefert. Diesen Anspruch
erfüllen auch andere informelle Verfahren wie beispielsweise die
schon erwähnte Aufgabensammlung von BRÜGELMANN (1986) oder das
Inventar zur "Prozessdiagnose der Schriftsprachkompetenzen"
von KRETSCHMANN, DOBRINDT & BEHRING (1998). So wäre es wünschenswert
gewesen, wenn das Jahrbuch solchen informellen diagnostischen Ansätzen
zur Diagnostik schriftsprachlicher Kompetenzen ein eigenes - vielleicht
auch recht kritisch gefärbtes - Kapitel gewidmet oder zumindest eine
Begründung für den Verzicht hierauf enthalten hätte.
Völlig unberücksichtigt blieben auch drei weitere Themenbereiche,
die sicher von großer Bedeutung für die Diagnostik von Lese-
und Rechtschreibschwierigkeiten sind. Sie betreffen folgende Fragenkomplexe:
- Wie und mit welchen Folgen für die weitere Lerngeschichte verarbeiten
die betroffenen Kinder die Tatsache, dass sie Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten
haben? Wie lassen sich solche Verarbeitungsmechanismen beschreiben,
erklären und lernförderlich beeinflussen? Welche Bedeutung
hat die emotionalen Qualität der Bewertung von Schriftsprache für
den Lernerfolg?
- In welchem Zusammenhang stehen die Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten
mit außerschulischen und - vor allem - unterrichtlichen Bedingungen?
Welchen Einfluss hat die wiederholt nachgewiesene Tatsache, dass viele
Unterrichtsmaterialien und die Unterrichtsgestaltung vieler Lehrkräfte
nicht an dem aktuellen fachlichen Wissenstand, den man erwarten könnte,
orientiert sind? Welche Folgen hat es beispielsweise, wenn sich der
Unterricht lediglich auf die Vermittlung der technischen Fertigkeiten
beschränkt, ohne dass Sinnhorizonte des Schriftsprachgebrauchs
und wesentliche Bedeutungsaspekte der Schriftsprache einsichtig gemacht
werden? Aufgrund welcher Merkmale lassen sich erfolgreiche und weniger
erfolgreiche Unterrichtskonzepte unterscheiden?
- Welche Bedingungen begünstigen und erschweren es den Lehrkräften,
ihren Unterricht an erfolgversprechenden Vermittlungskonzepten, die
dem aktuellen fachlichen Wissensstand entsprechen, zu orientieren?
Solche Fragen dürften durchaus relevant für das Thema "Diagnostik
von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten" sein, überschreiten
allerdings die von den Herausgebern eng gezogene Begrenzung auf den kognitiven
Leistungsbereich. Es bleibt somit offen, welcher Stellenwert den von den
Autoren mit so vorbildlicher Gründlichkeit, Intensität und fachlicher
Kompetenz bearbeiteten Fragestellungen und erzielten Ergebnissen im Kontext
des gesamten Problemfeldes zukommt. Möglicherweise bräuchten
die Problemlagen, welche den Anlass für die in diesem Buch beschriebenen
Forschungsvorhaben und Entwicklungsarbeiten gaben, gar nicht in der festgestellten
Häufigkeit und Massivität aufzutreten, wenn man den hier abschließend
aufgeworfenen Fragestellungen mehr und stärkere Beachtung schenken
oder oder ihnen sogar absolute Priorität einräumen würde.
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