Rezensionen

Hier finden sich Hinweise auf teils veröffentlichte, teils noch nicht veröffentlichte Rezensionen von Büchern, die ich entweder für wichtig halte oder die ich kritisch sehe.

Übersicht:

Diagnostik von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten

Kritische Auseinandersetzung mit einer bemerkenswerten Schrift in einer vielversprechenden Reihe zur pädagogisch-psychologischen Diagnostik

Zeitschrift für Heilpädagogik 7/2001, 291-296

MARCUS HASSELHORN, WOLFGANG SCHNEIDER und HARALD MARX zeichnen als die Herausgeber des ersten Bandes der neuen Folge von "Tests und Trends", dem "Jahrbuch der pädagogisch-psychologischen Diagnostik", das nun ab dem Jahre 2000 von Hogrefe in Göttingen verlegt wird. Die "alte" Folge mit KARLHEINZ INGENKAMP als "Senior-Herausgeber" ist vor drei Jahren offensichtlich aufgrund abnehmenden Interesses seitens der Leserschaft eingestellt worden. Aus meiner Sicht war dieser Schritt vor allem deswegen bedauerlich, weil jeder Band der seit dem Jahre 1981 erschienenen Reihe eine gut systematisierte, nahezu komplette und jedes Jahr aktualisierte Übersicht über alle verfügbaren, auf den deutschen Sprachraum bezogenen Tests zur Pädagogischen Diagnostik enthielt. Mit diesen Übersichten ließ sich der Inhalt des verdienstvollen Kompendiums "Testdiagnostische Verfahren in Vor-, Sonder- und Regelschulen" von BORCHERT, KNOPF-JERCHOW & DAHBASHI (1991) jährlich ergänzen, und so konnte ich bei den mir immer wieder gestellten Fragen, welche Tests es denn für bestimmte Problemstellungen gebe, stets auf diese Reihe verweisen. Speziell für die Sonderpädagogik waren auch immer wieder einzelne Beiträge innerhalb des meist breit gestreuten Spektrums an Themen und Rubriken sowie die Rezensionen wichtiger Veröffentlichungen zur Pädagogischen Diagnostik und neuer diagnostischer Verfahren interessant und informativ.

Band 1 der neuen Folge ist nun anders konzipiert: Auf Testübersicht und Rezensionsteil ist verzichtet worden, und statt der bisher üblichen thematischen Mischung konzentrieren sich alle Beiträge auf einen einzigen Problembereich. Dies hat den Vorteil, dass grundsätzlich alle Beiträge eines Bandes den jeweils gleichen Leserkreis ansprechen. Somit wird wohl seitens des Verlages und der Herausgeber mit einer von Band zu Band wechselnden Leserschaft gerechnet. Thematische Mixtur, Rezensionsteil und Testübersicht als Merkmale der früheren Bände sollten hingegen eine eher konstante Leserschaft ansprechen. Durch den Verzicht auf Rezensionen und Testübersicht ist nun also eine Lücke entstanden, die auf die eine oder die andere Weise wieder gefüllt werden sollte.

Mit der Themenwahl für den ersten Band sprechen die Herausgeber nun gleich einen sehr wichtigen Problembereich der Sonderpädagogik an. Lese-Rechtschreibschwierigkeiten kennzeichnen dort die pädagogische Situation eines beträchtlichen Teils der Schülerschaft und sind oft auch Anlass für die Einleitung und Durchführung sonderpädagogischer Maßnahmen. Im allgemeinen werden solche Maßnahmen von den Ergebnissen diagnostischer Untersuchungen abhängig gemacht und diagnostisch begleitet. Nach Ansicht der Herausgeber und Autoren haben allerdings die Bemühungen um die Verbesserung und Weiterentwicklung von entsprechenden diagnostischen Verfahren über eine lange Zeit hinweg stagniert. So ist ein großer Teil der verfügbaren Tests bereits Anfang der siebziger Jahre entwickelt worden und muss daher hinsichtlich der zugrundeliegenden theoretischen Modelle zum Erwerb und Gebrauch schriftsprachlicher Kompetenzen, der inhaltlichen Anforderungen, des Testkonzepts und der Normierungsdaten als veraltet bezeichnet werden. Diese Einschätzung trifft sicherlich zu, wenn man allein die psychometrischen Verfahren berücksichtigt. Hingegen sind zahlreiche informelle diagnostische Ansätze zur Planung, Begleitung und Kontrolle pädagogischer Vermittlungsprozesse bekannt geworden, die sich durchaus an neueren Konzepten zum Schriftspracherwerb orientieren - im Bereich der Sonderpädagogik wäre beispielsweise auf die fehleranalytischen Ansätze von PROBST & WACKER (1986) für das Lesen oder von BÖRNER (1996) für das Rechtschreiben zu verweisen. Auf solche Ansätze gehen die Autoren des Jahrbuchs allerdings gar nicht oder nur am Rande ein. Vielmehr sind die Beiträge dadurch gekennzeichnet, dass sie sich an den Ansprüchen psychometrischer Tests orientieren und sich bewusst auf psychologische Aspekte konzentrieren.

Zunächst aber ist wichtig zu wissen, dass die Herausgeber und Autoren mit ihren Arbeitsgruppen selbst entscheidend zur Neuentwicklung der in diesem Band dargestellten diagnostischen Ansätze und Instrumente beigetragen haben und somit einen kompetenten, authentischen Überblick über die theoretischen Hintergründe, die Ergebnisse und die weiteren Perspektiven ihrer Arbeit geben können.

Im ersten, einleitenden Kapitel über "Früh-, Förder- und Differentialdiagnostik von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten: Eine Einführung" ordnen die drei Herausgeber die inhaltlichen Schwerpunkte ihrer Schrift in die Forschungstradition zur Diagnostik der Legasthenie bzw. zur Lese-Rechtschreibschwäche ein und beschreiben und begründen vor diesem Hintergrund ihre aktuellen Ansätze. Besonders informativ ist dabei der Hinweis auf "eine Reihe von Längsschnittstudien ..., mit deren Hilfe es möglich war, spezifische Vorläufermerkmale der Lese- und Rechtschreibleistungen zu identifizieren. ... Die Ergebnisse dieser Studien haben die LRS-Diagnostik in zweierlei Hinsicht entscheidend verändert. Zum einen belegen sie, dass Merkmale der phonologischen Informationsverarbeitung in vorher kaum geahntem Ausmaß für den erfolgreichen Schriftspracherwerb von Relevanz sind. Zum anderen wurde deutlich, dass die traditionelle Lese-Rechtschreibdiagnostik vermutlich viel zu spät zu einer Identifizierung von LRS-Kindern führt. Die Spuren dieser Einsicht finden sich in nahezu allen Beiträgen des vorliegenden Bandes" (S. 2f).


Diese Aussage trifft vor allem den inhaltlichen Kern des zweiten Kapitels über "Prognostische, differentielle und konkurrente Validität des Bielfelder Screenings zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC)" von HARALD MARX, HEINER JANSEN und HELMUT SKOWRONEK. Zunächst referieren die Autoren die Ergebnisse ihrer gründlichen und kritischen Studien der einschlägigen Literatur zu der Frage, mittels welcher Merkmale sich bereits im Vorschulalter spätere Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten prognostizieren lassen. In einem nächsten Schritt wird berichtet, wie die verschiedenen in Betracht kommenden Verfahren, also die potenziellen Prädiktoren, auf ihre Eignung untersucht worden sind. So sind sie in einer sorgfältig geplanten Längschnittstudie unter der Fragestellung geprüft worden, wie gut ihr Beitrag zur Vorhersage vorab definierter Kriterien sei. Dabei haben die Autoren zwischen spezifischen Kriteriumsleistungen (Schriftsprache, Lesen, Rechtschreiben) und unspezifischen Kriteriumsleistungen (Testintelligenz, Mathematik) unterschieden. Diese wurden gegen Ende des zweiten Grundschuljahres erfasst, während die potenziellen Prädiktoren zweimal, zehn Monate und vier Monate vor der Einschulung, erhoben wurden. Insgesamt sind zu Zwecken einer solchen längschnittlichen Validierung 2400 Kinder untersucht worden. Durch diese Prozedur sollten solche Prädiktoren identifiziert werden, die deutlich höher mit den spezifischen Kriteriumsleistungen korrelierten als mit den unspezifischen. Aber auch die Prädiktoren selbst wurden eingeteilt in spezifische, unspezifische und konfundierte: "Als spezifische Prädiktoren wurden solche Merkmalsbereiche bezeichnet, die erstens noch nicht durch Lese- und Schreibfertigkeiten beeinflusst sind und zweitens Aufgabenstellungen umfassen, die überwiegend beim Erwerb der Schriftsprache von Bedeutung sind und weniger beim Erwerb anderer Fertigkeiten zum Einsatz kommen. ... Als unspezifische Prädiktoren wurden alle Fertigkeiten, Fähigkeiten und Merkmalsbereiche aufgefasst, die sowohl an der Entwicklung der vorherzusagenden als auch von anderen Kriteriumsleistungen, wie z.B. Mathematik beteiligt sind. ... Als konfundierter Prädiktor wird die vorschulische Buchstabenkenntnis behandelt. Sie gehört in (korrelativ ausgewerteten) Längsschnittstudien zu den besten Prädiktoren " (S. 17f). Mit dieser klug durchdachten und eleganten Versuchsplanung gelangen zwei überzeugende Nachweise der Validität:

  1. die spezifischen Prädiktoren sind zur Vorhersage der spezifischen Kriterien, also der schriftsprachlichen Leistungen, wesentlich besser geeignet als die unspezifischen und konfundierten Prädiktoren,

  2. mittels der spezifischen Prädiktoren lassen sich die spezifischen Kriterien besser als die unspezifischen Kriterien (Mathematikleistungen und Testintelligenz) vorhersagen.

Bei den spezifischen Prädiktoren handelt es sich um vier Verfahren zur Prüfung der phonologischen Bewusstheit und um fünf Verfahren zur Prüfung von Aufmerksamkeit und Gedächtnis bezüglich einfachen Wortmaterials. Diese neun Verfahren bilden das "Bielefelder Sreening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC)" von JANSEN, MANNHAUPT, MARX & SKOWRONEK (1999).

Ganz ähnliche inhaltliche Anforderungen sind bereits in den "Lese- und Schreibaufgaben für Schulanfänger" von BRÜGELMANN (1986) enthalten. Darin findet sich u.a. eine Gruppe von Aufgaben, von BRÜGELMANN (1986, S. 49) als >Wort-"Ähnlichkeit"< bezeichnet. Diese scheint in nahezu idealer Weise die Prüfung von phonologischer Bewusstheit und Aufmerksamkeit für visuell dargebotenes Wortmaterial miteinander zu verbinden. Den des Lesens noch nicht kundigen Kindern werden dabei zwei grafische recht ähnliche Wortbilder, z.B. >Schule< und >Schuh< simultan präsentiert. Eines davon wird ihnen vorgelesen und gleichzeitig identifiziert, z.B. "Dieses Wort hier heißt >Schule<". Danach sollen die Kinder aus zwei verbal gebotenen Möglichkeiten, "raten", was auf der anderen Karte steht, in diesem Falle beispielsweise >Schuh< oder >Lehrer<. Bei Kindern, die dabei das grafisch und lautlich ähnliche Wortbild >Schuh< deuten, ist - bei weiterer Bestätigung dieses Antwortmusters - anzunehmen, dass sie ihre Aufmerksamkeit sehr bewusst und mit Erfolg auf die Laut-Zeichen-Ähnlichkeit gerichtet und sich somit nicht an der zunächst naheliegenden Ähnlichkeit der Bedeutungen orientiert haben. Es wäre interessant zu erfahren, warum diese Aufgaben nicht in die engere Wahl bei der Auswahl der spezifischen Prädiktoren genommen wurden.


Mit der beschriebenen korrelationsstatistisch abgesicherten Validierung ließen es die Autoren allerdings nicht bewenden. Darüber hinaus, so wird in dem Artikel berichtet, untersuchten sie an einer Stichprobe von 153 Kindern, wie gut sich das Verfahren zur individuellen Klassifikation eignet. Das Verfahren erwies sich dabei gegenüber einer nach dem Zufallsprinzip vorgenommenen Vorhersage als deutlich überlegen.


Ergänzend zu den Ausführungen der Autoren lässt sich auch feststellen, dass die Anwendung des Verfahrens weniger Fehlklassifikationen (nämlich zwölf) liefert als der ja auch mögliche Verzicht auf dasselbe (nämlich 26) - ein Qualitätsmerkmal, das beispielsweise sogenannte Schulreifetests früher nicht erfüllt haben (KORNMANN, 1972; TIEDEMANN, 1974). Die zwölf fehlklassifizierten Kinder teilten sich in zwei gleich große Gruppen auf: Bei sechs Kindern waren aufgrund ihrer unauffälligen Testergebnisse keine Probleme beim Schriftspracherwerb zu erwarten, was sich aber leider nicht bestätigte, und bei sechs anderen erfüllten sich die ungünstigen Prognosen des BISC zum Glück nicht. Es wäre nun von hohem theoretischen und praktischen Interesse, die Gründe für diese Fehlklassifikationen zu erfahren. Bei entsprechenden Aufklärungsversuchen hätten die Autoren ihr eng abgestecktes Terrain - Beschränkung auf den psychometrischen Ansatz und rein psychologische Erklärungen - wohl überschreiten müssen und etwa folgende Überlegungen anstellen können: Die sechs Kinder mit ungünstiger Prognose waren vielleicht in der aktuellen Testsituation nicht bereit oder in der Lage gewesen, ihr tatsächliches Leistungspotenzial zu zeigen, oder sie könnten das Glück gehabt haben, dass ihre möglicherweise unzureichenden Lernvoraussetzungen durch den Einsatz angemessener pädagogischer Vermittlungsmethoden (vgl. RÖBER-SIEKMEYER, 1997; SASSENROTH, 1998) kompensiert worden sind. Umgekehrt könnten die sechs Kinder mit günstiger Prognose das Pech gehabt haben, dass bei ihnen ungünstige Bedingungen für den Schriftspracherwerb eintraten, die sich im Test nicht zeigten und denen im Unterricht auch nicht wirksam begegnet wurde oder dass Merkmale der Unterrichtsgestaltung selbst oder außerschulische Einflüsse zum Versagen beitrugen.
Trotz des Verzichts auf solche, sicherlich relevanten pädagogischen Überlegungen ist dieses Kapitel für die sonderpädagogische Diagnostik von richtungsweisendem Interesse:

  1. Es setzt methodische und inhaltliche Maßstäbe für die Entwicklung solcher Tests, die valide Prognosen des individuellen Lernerfolgs ermöglichen sollen.

  2. Die Prädiktoren erfassen umschriebene Merkmalsbereiche, die sich - im Falle ungünstiger Ausprägung - gezielt beeinflussen lassen und damit Ansätze für erfolgversprechende Interventionen bieten. Tatsächlich verweisen die Autoren auf entsprechende empirische Belege für die Wirksamkeit solcher gezielter Hilfen.

  3. Es ist überzeugend dargelegt worden, dass das BISC sonderpädagogischen Fachleute, die mit Kindern im Vor- und Einschulungsalter arbeiten, eine wertvolle Erweiterung der diagnostischen Denk- und Handlungsmöglichkeiten darstellt.


Nicht weniger eindrucksvoll und lehrreich ist das dritte Kapitel "Knuspels Leseaufgaben: Theorie, Umsetzung und Überprüfung" von HARALD MARX. Hierin werden die Grundgedanken und Ergebnisse der langjährigen Arbeit zur Entwicklung von "Knuspels Leseaufgaben (Knuspel L)" von MARX (1998) beschrieben. "Knuspel" ist übrigens ein im Testheft in verschiedenen Varianten gezeichneter Kopffüßler, auf den die Aufgaben für die Kinder laufend Bezug nehmen. Gegenüber den bisher veröffentlichten Lesetests zeichnet sich dieses Verfahren durch mehrere Vorzüge aus:

  1. es geht von einem theoretisch fundierten Modell der Leseentwicklung aus

  2. aufgrund des Entwicklungsbezugs sind Anforderungen für sehr unterschiedliche Schwierigkeitsstufen vorgesehen

  3. auch inhaltlich unterscheiden sich die Testanforderungen, entsprechend dem theoretischen zu Grunde gelegten Modell der Leseentwicklung, sehr deutlich voreinander.

Das Entwicklungsmodell sieht vor, dass die Fähigkeit, Lesetexten den intendierten Sinn zu entnehmen, also das Leseverstehen, auf zwei wichtigen Voraussetzungen beruht: zum einen auf der spezifischen Lesefertigkeit des Dekodierens, die ihrerseits die Fertigkeit des Rekodierens voraussetzt, und zum anderen auf der allgemeineren Fähigkeit des Hörverstehens. Folglich setzt sich der Test aus vier Subtests, Rekodieren, Dekodieren, Hörverstehen und Leseverstehen, zusammen.
Die Aufgaben zum Hörverstehen erfordern, ähnlich wie der ASVT von KLEBER & FISCHER (1982), das Verstehen mündlich gestellter Fragen und Aufforderungen sowie - ganz entscheidend! - die sachgerechte Beantwortung der Fragen bzw. die angemessene Ausführung der Aufforderungen, und zwar alles mittels Papier und Bleistift in dem dafür vorgesehehen Testheft. Lese- und Schreibfertigkeiten sind zwar nur in sehr geringem Ausmaß erforderlich, wohl aber das Vertrautsein mit Papier und Bleistift und die Orientierung in dem Testheft. Beim Subtest Rekodieren werden den Kindern jeweils zu lesende Wortpaare geboten, die entweder lautgleich (z. B. >Meer< / >mehr<) oder, trotz Ähnlichkeit auf Graphemebene, lautverschieden (z.B. >alte< / >alle<) sind. Die Kinder sollen bei jedem Wortpaar durch ein Plus- oder Minuszeichen kennzeichnen, ob sich die beiden Wörter gleich (+) oder verschieden ( - ) anhören. Der Subtest Dekodieren konfrontiert die Kinder mit einer Folge einzelner Pseudowörter. Von diesen sind einige zwar sinnvoll, aber nicht nach den Regeln der Orthographie verschriftet (z.B. >Rogg< oder >Doose<). Diese sinnvollen Wörter sollen die Kinder durch ein Pluszeichen identifizieren und von den nicht sinnvollen Pseudowörtern, die ebenfalls präsentiert werden (z.B. >Fedder< oder >Knape<) unterscheiden. Die Aufgaben des Untertests Leseverstehen sind im Hinblick auf die Aufgabenstellungen und den Lösungsmodus ähnlich konzipiert wie die zum Hörverstehen, jedoch müssen hier die Fragen und Aufforderungen in dem Testheft gelesen werden.
Von ganz ähnlichen theoretischen Überlegungen wie MARX (1998) haben sich auch PROBST & WACKER ( 1986) bei der Erstellung ihrer Kategorien für die Fehleranalysen bei lauten Leseproben leiten lassen. Der Vorteil der Methode von PROBST & WACKER (1986) ist darin zu sehen, dass die Kategorien unabhängig von den Inhalten und Schwierigkeisstufen der gewählten Texte angelegt werden können und sich stets bei gleichen oder auch neuen Texten in gleicher Form anwenden lassen. Der Vorteil von "Knuspels Leseaufgaben" als Gruppentest besteht demgegenüber in der wesentlich größeren Ökonomie und den leichten interindividuellen Vergleichsmöglichkeiten. Die vielfältigen Zusatzauswertungen lassen zudem ähnlich differenzierte lesediagnostische Aussagen zu wie das Verfahren von PROBST & WACKER (1986). Für die sonderpädagogische Diagnostik ist dieser Test auch deswegen interessant und anregend, weil die gestellten Anforderungen von den traditionellen Methoden, mit denen üblicherweise der Stand der Lesefertigkeit überprüft wird, erheblich abweichen und somit neue Perspektiven für eine differenzierte und theoretisch fundierte Urteilsbildung ermöglichen.
Demgegenüber enthält der "Salzburger Lese- und Rechtschreibtest (SLRT)" von LANDERL, WIMMER & MOSER (1997) eher konventionelle Aufgabenstellungen. Über diesen Test informiert KARIN LANDERL, teilweise in sehr enger Anlehnung an die Ausführungen im Testhandbuch, im anschließenden vierten Kapitel. Der SLRT "... wurde mit der Zielsetzung entwickelt, Defizite in der Entwicklung der Lese-/ und oder Rechtschreibleistungen zu erfassen, daher wurden die Aufgabenanforderungen so angelegt, dass vor allem Unterschiede im unteren Leistungsbereich zuverlässig diagnostiziert werden können" (S.64). Normwerte, gewonnen an 2000 Kindern für den Lesetest und 3000 Kindern für den Rechtschreibtest, sind für fünf Messzeitpunkte (zwischen Ende des 1. Schuljahres, Mitte und Ende des 2. Schuljahres sowie für das 3. und 4. Schuljahr) erstellt worden. Somit deckt auch dieser Test einen ähnlich weiten Anwendungsbereich wie "Knuspels Leseaufgaben" ab. Dementsprechend sieht das Testkonzept vor, "Störungen der Teilkomponenten des Lesens und Rechtschreibens auf verschiedenen Lernstufen" (S. 65) zu erfassen. Beim Lesen werden drei Lernstufen unterschieden:

  1. synthetisches Lesen auf Wortebene
  2. automatische direkte Worterkennung
  3. Textlesen.

Zur Prüfung des synthetischen Lesens werden den Kindern zwei Listen von Pseudowörtern vorgegeben, wobei es sich bei der ersten Liste, die auch für die Kinder des 1. Schuljahres vorgesehen sind, um "wortunähnliche" Zusammensetzungen handelt (z.B. >talire>, >holotu<), bei der zweiten Liste sind die Pseudowörter "wortähnlich" (z.B. >Natze<, >olt<). Solche Pseudowörter können also nur durch synthetisierendes Vorgehen richtig erlesen werden, mögliche andere Strategien (Wiedererkennen des Wortbildes, Erschließen des gesamten Wortes aufgrund eines Wortteils) sind somit ausgeschlossen. Die direkte Worterkennung wird ebenfalls mit Hilfe von Wortlisten überprüft. Dabei handelt es sich zum einen um eine Liste "häufiger Wörter" (wie z.B. >Katze<, >alt<) und zum anderen (nur für das 3. und 4. Schuljahr vorgesehen, um "zusammengesetzte Wörter" (wie z.B. >Schultasche<, >Farbkreide<). Alle Wörter sollen nacheinander möglichst schnell und fehlerfrei laut vorgelesen werden. Notiert werden benötigte Zeit und Anzahl der Fehler pro Wortliste. Das "Textlesen" wird bei den jüngeren Kindern (1. und 2. Schuljahr) mittels eines kurzen Textes (30 Wörter) und bei den älteren Kindern mittels eines längeren Textes (57, zum Teil recht lange Wörter) geprüft. Auch hier werden die benötigte Zeit und die Anzahl der Fehler ermittelt. Fehleranalysen sind nicht vorgesehen. Differenzierte Auswertungen sind jedoch auf der Grundlage von intraindividuellen Vergleichen bezüglich der einzelnen Untertests möglich. LANDERL deutet in diesem Zusammenhang an, dass bei bestimmten Diskrepanzen spezifische Hypothesen naheliegen, denen dann weiter nachzugehen sei. Allerdings liefert nur das Testhandbuch bezüglich dieser gerade für die Sonderpädagogik so wichtigen Aufgaben nähere Informationen und auch Hinweise auf praktische Hilfen.
Die Rechtschreibleistungen werden anhand konventioneller Lückentexte geprüft, wobei jeder schriftlich vorgegebene Satz eine Lücke für ein diktiertes Wort enthält, das an dieser Stelle einzutragen ist. Im Unterschied zu den Lesetests, die nur in Einzeluntersuchungen durchgeführt werden können, lässt der Rechtschreibtest Gruppenuntersuchungen zu. Es gibt zwei Versionen: eine kürzere mit 25 kritischen Wörtern für Kinder des 1. und 2. Schuljahres und eine längere, die darüber hinaus noch 24 weitere Wörter aufweist. Nahezu alle ausgewählten Wörter erfordern für die korrekte Verschriftung eine Überwindung der alphabetischen Strategie und eine Orientierung an orthographischen Regeln (Markierung von langen und kurzen Vokalen, Ableitungen aus Stammmorphemen, Kenntnis gebräuchlicher Graphemfolgen und der Schreibung häufig verwendeter Morpheme). Gleichwohl sollen fehlerhafte Produktionen auch unter der Frage analysiert werden, inwieweit eine lautorientierte Verschriftung gelingt. Auf differenzierte Fehleranalysen wurde jedoch verzichtet, weil der dafür erforderliche Aufwand angesichts der niedrigen Reliabilität der Ergebnisse zu hoch sei.
Mit dem SLRT, der insbesondere im unteren Leistungsbereich gut differenziert, lässt sich die Leistungsentwicklung der untersuchten Kinder über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg anhand identischer Kriterien und auf der Grundlage von Normen, die für fünf verschiedene Zeitpunkte gelten, beobachten. Daher dürfte er für den Einsatz in Sonderschulen (insbesondere in Schulen für Lernbehinderte) besonders hilfreich sein, um den Erfolg der pädagogischen Bemühungen zu dokumentieren und nötigenfalls zu verbessern.
Im fünften Kapitel stellen PETRA KÜSPERT & WOLFGANG SCHNEIDER die von ihnen entwickelte "Würzburger Leise Leseprobe (WLLP)" vor und geben einige Hintergrundinformationen zur Testentwicklung (KÜSPERT & SCHNEIDER, 1998). Auch die WLLP ist über drei Schuljahre hinweg (Ende 1. Klasse bis 4. Klasse) einsetzbar, und so liegen für jede dieser Klassenstufen geschlechtsspezifische Prozentrangnormen vor, die an Stichproben zwischen 285 und 363 Kindern gewonnen wurden. Der Test ist außerordentlich zeit- und arbeitsökonomisch: Er lässt sich als Gruppentest durchführen, wobei die reine Testzeit genau 5 Minuten beträgt. In dieser Zeit sollen die untersuchten Kinder möglichst viele der von ihnen zu lesenden Wörter den entsprechenden Bilddarstellungen durch Ankreuzen zuordnen, wobei ihnen jeweils vier Alternativen geboten werden. Neben der Abbildung des Zielwortes enthalten die Alternativen solche Distraktoren, die phonologisch und semantisch ähnliche Wörter darstellen. Die beiden Parallelformen des Tests bestehen aus jeweils den gleichen 140 Items, die allerdings in veränderter Reihenfolge präsentiert werden. Deshalb sprechen die Autoren von "Pseudo-Paralleformen". Die dargebotenen Wörter sind ein- bis viersilbig und sollen - nach Angaben der Autoren - Grundschulkindern geläufig sein. Vor dem Einsatz in Schulen für Lernbehinderte wäre diese Voraussetzung allerdings zu überprüfen. Immerhin ist hier mit einem hohen Anteil von Migrantenkindern zu rechnen, die Schwierigkeiten mit der Zweitsprache Deutsch haben (vgl. KORNMANN, BURGARD & EICHLING, 1999). Selbstverständlich ließe sich die WLLP ja auch als informeller Wortschatztest durchführen, indem die Lehrperson die schriftsprachlich vorgegebenen Zielwörter verbalisiert und die Kinder diese anhand der Bilder identifizieren müssen. Auch in Klassen und Altersgruppen, für die keine Normwerte mehr vorliegen, lässt sich die WLLP als informeller Test anwenden, wenn man die Leistungsentwicklung der Kinder über einen längeren Zeitraum hinweg dokumentieren will. Dafür genügt die wiederholte Ermittlung der individuellen Rohwerte (für jede richtige Identifizierung ein Punkt), wobei man sinnvollerweise die beiden Parallelformen im Wechsel darbietet oder durch Vertauschen der Seiten weitere Parallelformen generiert.
Im Unterschied zu den vorher beschriebenen Testverfahren besteht die WLLP aus einer einzigen Testskala, wobei die Anforderungen auf einen sehr eng umschriebenen Aspekt der Lesefertigkeit bezogen sind . Folglich wird der theoretische und praktische Anspruch dieses Tests auch wesentlich niedriger angesetzt als bei den zuvor beschriebenen Verfahren. Die Autoren können aber aufgrund fundierter theoretischer Annahmen und der zumindest befriedigenden Ergebnisse ihrer eigenen Validierungsstudien überzeugend darlegen, dass die WLLP ein valides Globalmaß für den Stand der individuellen Lesefertigkeit liefert - und dies mit äußerst geringem Erhebungsaufwand.
Das sechste Kapitel von PETER MARX & WOLFGANG SCHNEIDER ist ein Werkstattbericht, der über den schon sehr weit fortgeschrittenen Stand der theoretischen Aufarbeitung einschlägiger Literatur und der umfangreichen eigenen empirischen Untersuchungen zur "Entwicklung eines Tests zur phonologischen Bewussheit im Grundschulalter" informiert. Gerade bei Kinder mit Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb ist diesem Aspekt erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken, was sich auch in der Entwicklung geeigneter diagnostischer Instrumente niederschlagen sollte. Hierauf gehen die Autoren auch selbst in der Diskussion ihres Vorhabens intensiv und mit vielen wichtigen Argumenten und Überlegungen ein. Insofern ist dieses Kapitel, obwohl das darin beschriebene Verfahren noch nicht gebrauchsfertig vorliegt, auch und gerade für sonderpädagogische Fachleute äußerst aufschlussreich und interessant. Ohnehin meine ich, dass gerade Werkstattberichte dem besonderen Anliegen von Jahrbüchern gut entsprechen und hier ihren bevorzugten Platz finden sollten, halten sie doch die Leserschaft besonders gut auf dem Laufenden über aktuelle Themen und Vorhaben.
Bis zu diesem sechsten Kapitel entsprechen die Themen und Inhalte der Schrift noch weitgehend den Erwartungen, die man an ein "Jahrbuch der pädagogisch-psychologischen Diagnostik" stellen mag. Als besonders erfreulich finde ich, dass sich alle Beiträge von inhaltlichen und theoretischen Überlegungen leiten lassen und Gesichtspunkte der Praktkabilität immer mitbedacht werden, ohne von den notwendigen messtechnischen und erhebungsmethodischen Aspekten dominiert zu werden. Zwar kann auch für die hier vorgestellten Tests das Verdikt von SCHULTE (1976) zutreffen , dass in der Testdiagnostik die Fragestellungen durch die Methoden diktiert würden (was JÜTTEMANN, 1983, S. 36, als "Inversionsprinzip" kennzeichnet), aber ich denke, die hier durch Tests induzierten Fragestellungen sind als präzise und problemangemessen einzuschätzen und eröffnen möglicherweise manchen Anwendern neue Perspektiven auf den Problembereich.
So, als sollte die bislang sträflich vernachlässigte inhaltliche und theoretische Arbeit im Bereich der pädagogisch-psychologischen Diagnostik auf einen Schlag nachgeholt und damit ein deutliches Zeichen gesetzt werden gegenüber der lange Zeit vorherrschenden Fixierung der Testdiagnostik auf ihre instrumentellen Qualitäten, lesen sich die restlichen Kapitel des Jahrbuches. Im Mittelpunkt der vier folgenden Abhandlungen stehen kognitionstheoretisch begründete Untersuchungen von Problemen, die in einen mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang mit wichtigen Detail-Fragen des beeinträchtigten und problemlosen Erwerbs und Gebrauchs von Schriftsprache gebracht werden. Dabei werden dann auch Ansatzpunkte und methodische Möglichkeiten zur Klärung dieser Fragen herausgearbeitet, so dass der Bezug zur Diagnostik zwar erkennbar wird, aber nicht unbedingt im Vordergrund steht. Diese Einschätzung wird sicher auch schon aus den Titeln deutlich:
Kapitel sieben: "Ist das >Nachsprechen von Kunstwörtern< für die Entwicklungsdiagnostik des phonologischen Arbeitsgedächtnisses geeignet?" ,
Kapitel acht: "Phonologisches Arbeitsgedächtnis und Leseleistungen. Ein Vergleich zwischen dysphasisch-sprachentwicklungsgestörten und sprachunauffälligen Kindern",
Kapitel neun: "Spielt der phonetische Speicher des Arbeitsgedächtnisses eine bedeutsame Rolle für die Differentialdiagnose von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten? Analysen zum >Kunstwörter-Nachsprechen< bei Kindern mit LRS- und/oder HKS-Diagnose",
Kapitel zehn: "Theoretisches Rahmenmodell für ein Diagnostikum zur differentiellen Funktionsanalyse des phonologischen Arbeitsgedächtnisses".
Alle vier Kapitel wurden von MARCUS HASSELHORN und Mitgliedern seiner Arbeitsgruppe verfasst.
Das letzte Kapitel wurde von HARALD MARX geschrieben und beinhaltet "Anspruch, Notwendigkeit, Realisierung und Alternativkonzeption der Schriftsprachförderung im Sekundarbereich". Ein Bezug zur Diagnostik fehlt hier weitgehend. Gerade für Lehrkräfte an Sonderschulen bietet es eine Reihe solider Informationen zur Thematik. Sie gipfeln in der gut begründeten These "Rechtschreiben lernt man durch richtiges Wortlesen". Hierauf baut die alternative Förderkonzeption auf, die auch anhand praktischer Hinweise zur Umsetzung kurz beschrieben wird.
Ein großer Teil des Buches, das aufgrund von Titel und Buchreihe dem Arbeitsgebiet der Diagnostik zuzuordnen ist, enthält also Darstellungen, deren Inhalte weit über den Rahmen eben dieser Disziplin hinausweisen und ein vertieftes inhaltliches Verständnis erfordern. Einen Teil der Leserschaft mag dies überraschen, vielleicht auch befremden oder provozieren, wurde doch bislang versucht, ein fachliches Selbstverständnis der Diagnostik als eigenständige Disziplin allein über die Orientierung an formalen Merkmalen zu gewinnen. Offensichtlich wollten die Herausgeber vor allem eines demonstrieren: Für die Entwicklung guter diagnostischer Instrumente reicht es nicht aus, wenn der betriebene Arbeitsaufwand lediglich in die Erfüllung technischer und formaler Gütekriterien investiert wird, und die sinnvolle Anwendung eben solcher Instrumente erfordert wesentlich mehr als nur die als Routinen ausgegebene Beachtung von Regeln zur Durchführung, Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten. Konsequent zu Ende gedacht, würde eine solche Auffassung dazu führen, den Anspruch auf Eigenständigkeit der Diagnostik als Disziplin aufzugeben und ihr nur noch nachgeordnete Arbeitsanteile in den verschiedenen, inhaltlich definierten Aufgabenfeldern zuzuweisen. Dieser Gedanke, das "Prinzip der Subsidiarität in der pädagogischen Diagnostik" (FLAMMER & GUTMANN, 1977, S. 88) zu betonen, ist zwar nicht neu, fand aber bisher wenig Beachtung. Daher wäre es zumindest erwägenswert gewesen, ob eine solche offensichtlich "in der Luft liegende" Thematik mit ihren verschiedenen wissenschaftlichen Facetten nicht auch eigens in diesem Jahrbuch hätte thematisiert werden sollen - eventuell auch auf Kosten eines der letzten Kapitel. - Damit hätte ich bereits die möglichen Desiderata angesprochen.

Das neue Jahrbuch belegt eindrucksvoll die deutlichen Fortschritte, welche in den letzten Jahren im Bereich der Lese-Diagnostik erzielt wurden. Bezüglich der Rechtschreib-Diagnostik wird hingegen der Eindruck vermittelt, dass der theoretische Entwicklungsstand etwa dem Niveau des entsprechenden Untertests des SLRT sowie ähnlich konzipierter Tests wie etwa denen von BIRKEL (1994a, 1994b, 1995) entspräche. Dies stimmt aber nur, wenn man allein die psychometrischen Tests berücksichtigt. Theoretisch sehr fundierte Überlegungen zur Rechtschreibdiagnostik, die konzeptionell den im Jahrbuch dargelegten Ausführungen zur Lesediagnostik entsprechen, hat vor längerer Zeit bereits PROBST (1989) mit dem "Inventar impliziter Rechtschreibregeln (IiR)" vorgelegt. Es handelt sich dabei um ein informelles Verfahren, bei dem der individuelle Lernstand auf ein Strukturmodell zum Erwerb orthographischer Kompetenzen bezogen wird und insofern zur Planung, Begleitung und Evaluation von Lehr-Lernprozessen in der Praxis völlig ausreichende Informationen liefert. Diesen Anspruch erfüllen auch andere informelle Verfahren wie beispielsweise die schon erwähnte Aufgabensammlung von BRÜGELMANN (1986) oder das Inventar zur "Prozessdiagnose der Schriftsprachkompetenzen" von KRETSCHMANN, DOBRINDT & BEHRING (1998). So wäre es wünschenswert gewesen, wenn das Jahrbuch solchen informellen diagnostischen Ansätzen zur Diagnostik schriftsprachlicher Kompetenzen ein eigenes - vielleicht auch recht kritisch gefärbtes - Kapitel gewidmet oder zumindest eine Begründung für den Verzicht hierauf enthalten hätte.
Völlig unberücksichtigt blieben auch drei weitere Themenbereiche, die sicher von großer Bedeutung für die Diagnostik von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten sind. Sie betreffen folgende Fragenkomplexe:

  1. Wie und mit welchen Folgen für die weitere Lerngeschichte verarbeiten die betroffenen Kinder die Tatsache, dass sie Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten haben? Wie lassen sich solche Verarbeitungsmechanismen beschreiben, erklären und lernförderlich beeinflussen? Welche Bedeutung hat die emotionalen Qualität der Bewertung von Schriftsprache für den Lernerfolg?

  2. In welchem Zusammenhang stehen die Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten mit außerschulischen und - vor allem - unterrichtlichen Bedingungen? Welchen Einfluss hat die wiederholt nachgewiesene Tatsache, dass viele Unterrichtsmaterialien und die Unterrichtsgestaltung vieler Lehrkräfte nicht an dem aktuellen fachlichen Wissenstand, den man erwarten könnte, orientiert sind? Welche Folgen hat es beispielsweise, wenn sich der Unterricht lediglich auf die Vermittlung der technischen Fertigkeiten beschränkt, ohne dass Sinnhorizonte des Schriftsprachgebrauchs und wesentliche Bedeutungsaspekte der Schriftsprache einsichtig gemacht werden? Aufgrund welcher Merkmale lassen sich erfolgreiche und weniger erfolgreiche Unterrichtskonzepte unterscheiden?

  3. Welche Bedingungen begünstigen und erschweren es den Lehrkräften, ihren Unterricht an erfolgversprechenden Vermittlungskonzepten, die dem aktuellen fachlichen Wissensstand entsprechen, zu orientieren?


Solche Fragen dürften durchaus relevant für das Thema "Diagnostik von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten" sein, überschreiten allerdings die von den Herausgebern eng gezogene Begrenzung auf den kognitiven Leistungsbereich. Es bleibt somit offen, welcher Stellenwert den von den Autoren mit so vorbildlicher Gründlichkeit, Intensität und fachlicher Kompetenz bearbeiteten Fragestellungen und erzielten Ergebnissen im Kontext des gesamten Problemfeldes zukommt. Möglicherweise bräuchten die Problemlagen, welche den Anlass für die in diesem Buch beschriebenen Forschungsvorhaben und Entwicklungsarbeiten gaben, gar nicht in der festgestellten Häufigkeit und Massivität aufzutreten, wenn man den hier abschließend aufgeworfenen Fragestellungen mehr und stärkere Beachtung schenken oder oder ihnen sogar absolute Priorität einräumen würde.

Literaturverzeichnis


Birkel, P. (1994a). Weingartener Grundwortschatz Rechtschreib-Test für zweite und dritte Klassen (WRT 2+). Göttingen: Hogrefe

Birkel, P. (1994b). Weingartener Grundwortschatz Rechtschreib-Test für dritte und vierte Klassen (WRT 3+). Göttingen: Hogrefe.

Birkel, P. (1995). Weingartener Grundwortschatz Rechtschreib-Test für erste und zweite Klassen (WRT 1+). Göttingen: Hogrefe.

Börner, A. (1996). Sprachbewußtheit funktionaler AnalphabetInnen am Beispiel ihrer Äußerungen zu Verschriftungen. Frankfurt/M.: Lang.

Borchert, J., Knopf-Jerchow, H. & Dahbashi, A. (1991). Testdiagnostische Verfahren in Vor-, Sonder- und Regelschulen. Heidelberg: Asanger.

Brügelmann, H. (1986). Lese- und Schreibaufgaben für Schulanfänger. Hamburg: Verlag pädagogische Medien.

Flammer, A. & Gutmann (1977). Das Prinzip der Subsidiarität in der pädagogischen Diagnostik. In H.-K. Garten (Hrsg.), Diagnose von Lernprozessen (S. 88 - 115). Braunschweig: Westermann.

Jansen, H., Mannhaupt, G., Marx, H. & Skowronek, H. (1999). Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC). Göttingen: Hogrefe.

Jüttemann, G. (1983). Psychologie am Scheideweg: Teilung oder Vervollständigung? In G. Jüttemann (Hrsg.), Psychologie in der Veränderung (S. 30 - 65). Weinheim: Beltz.

Kleber, E. W. & Fischer, R. (1982). Anweisungs- und Sprachverständnis-Test. Weinheim: Beltz.

Kornmann. R. (1972). Minimalisieren Schulreifetests die Zahl von Fehlentscheidungen? Kommentar zum Bericht von Mandl & Krapp "Zum Problem der Punktwertgrenzen bei der Interpretation". Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie , 4 , 282-286.

Kornmann, R. , Burgard, P. & Eichling, H.-M. (1999). Zur Überrepräsentation von ausländischen Kindern und Jugendlichen in Schulen für Lernbehinderte. Zeitschrift für Heilpädagogik, 50, 106-109.

Kretschmann. R., Dobrindt, Y. & Behring, K. (1998) Prozessdiagnose der Schriftsprachkompetenz. Horneburg: Persen.

Küspert, P. & Schneider, W.: Würzburger Leise Leseprobe (WLLP). Göttingen: Hogrefe.

Landerl, K., Wimmer, H. & Moser E. (1997). SLRT - Salzburger Lese- und Rechtschreibtest. Bern: Huber.

Marx, H. (1998). Knuspels Leseaufgaben (KNUSPEL-L). Gruppenlesetest für Kinder Ende des ersten bis vierten Schuljahres. Göttingen: Hogrefe.

Probst, H. (1989). Inventur impliziter Rechtschreibregeln. In G. Eberle & G. Reiß (Hrsg), Probleme beim Schriftspracherwerb: Möglichkeiten ihrer Vermeidung und Überwindung (S. 251 - 280). Heidelberg: Schindele.

Probst, H. & Wacker, G. (1986). Lesenlernen. Ein Konzept für alle. Solms-Oberbiel: Jarick.

Röber-Siekmeyer. Ch. (1993). Die Schriftsprache entdecken. Rechtschreiben im Offenen Unterricht. Weinheim: Beltz.

Sassenroth, M. (1998, 3. Aufl.). Schriftspracherwerb. Bern: Haupt.

Schulte, D. (1976). Psychodiagnostik zur Erklärung und Modifikation von Verhalten. In K. Pawlik (Hrsg.), Diagnose der Diagnostik (S. 149 - 176). Stuttgart: Klett.

Tiedemann, J. (1974). Die Problematik der Schuleingangsdiagnose unter entscheidungstheoretischem Aspekt. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 6, 124 - 132.

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Scherer, Petra: Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht der Schule für Lernbehinderte.Theoretische Grundlegung und unterrichtspraktische Erprobung.

Heidelberg (Schindele) 1995. 405 Seiten, DM/Fr. 38.--
(veröffentlicht in Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 65 (1996) 567-569).

Kürzlich habe ich in dieser Zeitschrift ein Buch kritisiert, weil es defizitorientiertes Denken und Handeln in der Sonderpädagogik argumentativ stützt und somit von der Notwendigkeit entbindet, die Struktur des Lerngegenstandes selbst im Hinblick auf seine Vermittlung und Aneignung zu analysieren. Nun bleibt negative Kritik unbefriedigend, wenn nicht zugleich auf konstruktive Alternativen verwiesen werden kann. Eine solche Alternative liegt jetzt vor. Die Autorin, Sonderschullehrerin und Mitarbeiterin im Institut für Didaktik der Mathematik an der Universität Dortmund, hat ihren Text als sonderpädagogische Dissertation vorgelegt und damit Theorie und Praxis ihres Fachgebiets ein gutes Stück vorangebracht. Es ist beeindruckend zu erfahren, welche Möglichkeiten der erfolgreichen pädagogischen Förderung von Kindern mit Lernschwierigkeiten genutzt werden können, wenn man das Dogma der reduzierten Lernfähigkeit mit all seinen unterrichtsmethodischen Implikationen kritisch hinterfragt und sich stattdessen an entwicklungsorientierten Konzepten, die zugleich die aktuellen Erkenntnisse der allgemeinen Fachdidaktik berücksichtigen, orientiert. Exemplarisch hat dies Frau Scherer für arithmethische Operationen beim Einstieg in den Hunderter-Raum in eigenen dreimonatigen Unterrichtsversuchen mit einer dritten Klasse und zwei kombinierten Klassen 2-4 einer Dortmunder Schule für Lernbehinderte demonstriert. Im Sinne des Prinzips der kontrollierten Praxis hat sie für jedes Kind den jeweiligen Lernstand vor und nach Durchführung des Versuchs erhoben und dadurch zum Teil beachtliche Lernfortschritte, gerade auch bei Kindern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen, belegen können. Dazu bediente sie sich eines nach didaktischen Gesichtspunkten sorgfältig zusammengestellten Aufgabensammlung zur Erfassung des aktuellen Lernstandes. Die besondere Qualität dieses selbst entwickelten und genau beschriebenen Verfahrens liegt darin, daß es nicht nur eine objektive Auswertung mit quantifizierbaren Ergebnissen ermöglicht, sondern auch als Grundlage für sogenannte "klinische Interviews", welche auf die individuellen Lösungsprozesse verweisen, dient. Auch dieses Vorgehen wird an mehreren Beispielen, die spannend zu lesen sind, sehr gut verdeutlicht. Der wohl wichtigste Teil des Buches betrifft allerdings die sehr genaue und differenzierte Darstellung des Unterrichtsversuchs selbst, nachdem zuvor gute Gründe dafür herausgearbeitet wurden, auch und gerade Kindern mit Lernschwierigkeiten von wohlgemeinter methodischer und personeller Gängelung zu befreien und sie ihren Lernprozess weitgehend als ihren eigenen erfahren und erleben zu lassen. Die als notwendig erachteten Impulse beschränken sich auf die Präsentation geeigneten Materials, das einerseits im Hinblick auf die zu erwerbenden Einsichten mathematisch strukturiert ist, andererseits aber offene Aufgabenstellungen nahelegt, welche den Entdeckungen, Erfindungen, kreativen Lösungen und Selbstkontrollen der Kinder breiten Raum lassen. Gerade angesichts des verwirrenden Überangebots an Fördermaterialien bietet dieser Abschnitt des Buches enorm wichtige, an praktischen Beispielen verdeutlichte Einsichten, um eine eigene vertretbare Position für eine lernförderliche Unterrichtsgestaltung zu gewinnen. Mit Sicherheit würden auch therapeutisch orientierte Einrichtungen, die sich auf die Förderung von Kindern mit zugeschriebenen Rechenschwächen spezialisieren, diese Vorschläge gut für ihre Zielsetzung nutzen können. Sind aber erst einmal die in diesem Buch vertretenen pädagogischen Positionen und vermittelten fachdidaktischen Erkenntnisse zum festen Bestandteil der professionellen Kompetenz aller Lehrkräfte an Grund- und Sonderschulen geworden, dann wird man sehr viel seltener als heute mit dem Problem der Diagnose und Behandlung von Rechenschwächen konfrontiert sein. Entfalten kann sich eine solche Pädagogik allerdings nur, wenn die Vielfalt der Denk-, Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten aller Kinder auf ihrem jeweiligen Lern- und Entwicklungsniveau begrüßt und für gemeinsame Entwicklungsprozesse genutzt wird. Folglich erfordert eine konsequente Orientierung an den von Frau Scherer exemplarisch herausgearbeiteten und empirisch gestützten pädagogischen Prinzipien ein Denken und Handeln gegen die oft nicht mehr hinterfragte Tradition des lehrgangsförmigen Unterrichts und die damit korrespondierende Logik des Systems, wäre also Bildungsarbeit im besten Sinne. Der ansprechend gestaltete, mit vielen illustrierten Beispielen versehene, preiswerte Band bietet also nicht nur unterrichtspraktisch und therapeutisch interessierten Leserinnen und Lesern eine Fülle direkt verwertbarer Anregungen, sondern erfüllt auch in erkenntnistheoretischer und bildungstheoretischer Hinsicht hoch angesetzte Qualitätsmaßstäbe.

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Kronig, Winfried, Haeberlin, Urs, Eckhart, Michael:

Immigrantenkinder und schulische Selektion.

Pädagogische Visionen, theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Wirkung integrierender und separierender Schulformen in den Grundschuljahren. Bern (Haupt) 2000. 229 S. Fr. 29.- / DM 32.-

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Anlass und gedanklicher Ausgangspunkt der Abhandlung ist die seit langem bekannte Tatsache, dass Kinder von Immigranten gehäuft Probleme mit den Anforderungen der Regelschule haben und deswegen vermehrt in Sondereinrichtungen überwiesen werden. Die Autoren belegen dies in prägnanter und zugleich recht detaillierter Form für die Schweiz. Dabei wird deutlich, dass erstens die Überrepräsentation ausländischer Kinder in Sonderklassen seit dem Jahre 1980 stetig zugenommen hat und zweitens diesbezüglich erheblich Unterschiede sowohl zwischen den einzelnen Nationalitäten als auch zwischen den einzelnen Kantonen bestehen. Nun ist dies kein Spezifikum der Schweiz, da - worauf die Autoren auch hinweisen - in Deutschland ganz ähnliche Verhältnisse bestehen. Insofern ist die Thematik auch für die deutsche Leserschaft aktuell.
Entsprechend dem Untertitel setzt sich das Buch aus drei verschiedenen Teilen zusammen, die jeweils ihren spezifischen Bezug zum Haupttitel haben. Die theoretischen Erklärungen betreffen die Tatsache der zunehmenden Überrepräsentation der Immigrantenkinder in Sonderklassen und sind als kritische Übersichtsreferate - sehr klug gegliedert übrigens - zu folgenden Themen konzipiert: Aussagen der Interkulturellen Pädagogik über schulleistungsschwache Immigrantenkinder (Kap. 2), Aussagen der Lernbehindertenpädagogik über schulleistungsschwache Immigrantenkinder (Kap. 3), Zusammenfassung des Forschungsstands zur Wirkung von Separation und Integration (Kap. 4) sowie Theorien zur Erklärung von Wirkungen schulischer Separation und Integration (Kap. 5). In diesen Kapiteln ist der jeweils aktuelle Forschungsstand auch mit Blick auf angloamerikanische Untersuchungen übersichtlich, sicherlich weitgehend komplett und mit eigenständigen innovativen Impulsen aufgearbeitet. Eine bessere Informationsquelle ist mir derzeit nicht bekannt. Die empirischen Untersuchungen - sehr solide angelegt, insbesondere in dem grösseren, mit quantitativen Methoden operierenden Teil - erbringen drei sehr eindrucksvolle Ergebnisse: erstens "Immigrantenkinder mit Schulleistungsschwächen machen in Regelklassen die grösseren Lernfortschritte in der Unterrichtssprache als bezüglich Alter, Intelligenz und Ausgangsleistung vergleichbare Immigrantenkinder in Sonderklassen für Lernbehinderte oder in Fremdsprachenklassen" (S. 189), sie sind zweitens bezüglich der sozialen Integration in Regelklassen nicht schlechter gestellt als in Sonderklassen für Lernbehinderte, und drittens "ist eine Beeinträchtigung der Lernentwicklung von normal und von überdurchschnitttlich begabten Schweizer durch die Integration von Immigrantenkindern nicht belegbar" (S. 192). Die pädagogischen Visionen, im abschliessenden Kapitel auch explizit formuliert, gelten den Bedingungen und Realisierungschancen einer Pädagogik ohne Aussonderung, für die auch diese wissenschaftliche Arbeit überzeugende theoretische wie empirische Argumente geliefert hat - in dies dazu noch in einer sehr gut und interessant zu lesenden Form!
Prof. Dr. Reimer Kornmann
D-69120 Heidelberg