2.

Impulsreferat


für die

"Tagung zur interkulturellen Bildungsarbeit:
Ergebnisse und Perspektiven von Bildungsprojekten
von und für Sinti und Roma"


am 20. 06. 2000 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
veranstaltet vom
Institut für Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
und dem
Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie sind der Einladung zu einer Tagung gefolgt, die Ihnen vermutlich Einiges an Denkarbeit und Selbstreflexion abverlangen wird. Diese Vermutung begründe ich mit meinen eigenen Erfahrungen bei der Vorbereitung zu dieser Tagung. Mir wurde dabei - wieder einmal -bewusst, wie anspruchsvoll das Geschäft von Lehrerinnen und Lehrern sein kann, wenn sie dem Anliegen einer humanen Pädagogik gerecht werden wollen. Heute werden Lehrerinnen und Lehrern eher selten Grenzen gesetzt hinsichtlich dessen, was sie denken und wissen dürfen - ja, es ist geradezu unheimlich viel, worüber sie Bescheid wissen sollen, welche Aufgaben ihnen übertragen werden, was sie alles zu bedenken haben und können müssen. Wer einiges davon - verständlicherweise - als Überbürdung empfindet und sich - bisweilen auch mit Recht - über das Ausmaß der geforderten oder erwarteten pädagogischen Kompetenzen beklagt, sollte jedoch bedenken, dass es auch Zeiten gegeben hat, in welchen der Denk- und Wissenshorizont von Lehrerinnen und Lehrer bewusst begrenzt gehalten wurde. Als Beleg für diese Aussage kann durchaus die Geschichte dieses Hauses herhalten. Als es vor knapp 100 Jahren, also in der wilhelminischen Zeit, gegründet wurde, dienten die Lehrer lediglich als Erfüllungsgehilfen bei der Qualifizierung der Kinder aus den sogenannten niederen Ständen, und im übrigen sollten sie zu absoluter Kaisertreue erziehen. Es waren schließlich die Lehrer selbst, die mehr Bildung für sich einforderten und sich zum Teil auch selbst bildeten, indem sie sich zusätzlich an Universitäten einschrieben.
Um Bildung geht es auch bei dieser Tagung. Der Begriff Bildung wird - nachdem er eine Zeit lang in Fachkreisen etwas verpönt war - heute wieder häufig, aber keineswegs gleichsinnig gebraucht. Deshalb scheint es mir sinnvoll zu sein, sich zunächst einmal Klarheit über zwei verschiedene Bedeutungsvarianten zu verschaffen, um auf dieser Grundlage Konturen eines pädagogisch angemessenen Bildungsbegriff zu erkennen. Dabei soll dann auch klar werden, weshalb die Initiatoren und Veranstalter nicht einfach eine Tagung über laufende und geplante Bildungsprojekte "für" - oder gar "über" - Sinti und Roma durchführen wollten, sondern warum sie die aktive Beteiligung und Initiative der Betroffenen im Tagungsthema - "von und für" Sinti und Roma - deutlich hervorgehoben haben. Meine Ausführungen gliedern sich somit in zwei Teile:
Zunächst stelle ich einige Überlegungen zum Bildungsbegriff vor. Danach werde ich begründen, warum es - im Einklang mit dem zuvor herausgearbeiteten Bildungsbegriff - sinnvoll und notwendig ist, auch und gerade die Interessen und Perspektiven der Adressaten von Pädagogik - beispielsweise der von Sinti und Roma zu berücksichtigen.

1. Einige Überlegungen zum Bildungsbegriff

Viele, die heute mehr und bessere Bildung einfordern, verstehen darunter vor allem eine angemessene Qualifizierung für die sich schnell verändernden Anforderungen des Arbeitsmarktes. Damit wird der Bildungsbegriff auf eine volkswirtschaftlich berechenbare Größe reduziert: Die in die Bildung investierten Kosten sollen in einem optimalen Verhältnis zu dem erwarteten ökonomischen Ertrag stehen. Mit einer solchen Zielsetzung identifzieren sich nicht wenige der einflussreichen Wirtschaftsfachleute, Bildungspolitiker und Pädagogen, etwa mit Blick auf die Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland im globalen Wettbewerb. Würde man im Sinne dieser Zielsetzung konsequent weiterdenken, dann müsste man zu dem Schluss kommen, dass sich bei bestimmten Menschen Bildungsinvestitionen nicht lohnen, weil die aufgewendeten Kosten höher sind als der volkswirtschaftliche Nutzen. Solche ausschließlichen Nützlichkeitserwägungen böten dann wiederum die Argumentationsgrundlage dafür, Bildung nur bestimmten, nämlich sogenannten "bildungsfähigen" Menschen zukommen zu lassen und andere davon auszuschließen. Spricht man aber auf diese Weise bestimmten Menschen die Fähigkeit ab, sich zu bilden, dann ist es nicht mehr weit zu dem Gedanken, ihnen das Recht auf Leben abzusprechen. Genau in dieser Richtung haben die Nationalsozialisten gedacht und dementsprechend gehandelt. Sie haben die Menschen gespalten in solche, die sie für lebenswert hielten und solche, die ihnen nicht lebenswert erschienen. Die Gruppe der ihrer Meinung nach Lebensunwerten haben sie noch einmal unterteilt in "brauchbare" und "unbrauchbare". Bei den sogenannten "Unbrauchbaren" handelte es sich, neben Kindern und Greisen, um psychisch kranke und körperlich beeinträchtigte Menschen; sie wurden teilweise noch für angeblich wissenschaftliche Experimente missbraucht und dann getötet. Die als "brauchbar" eingeschätzten wurden hingegen der Vernichtung durch Arbeit in Konzentrationslagern zugeführt. Dieses Schicksal widerfuhr nicht nur den Juden, sondern auch den Sinti und Roma. Wenn wir also heute über Möglichkeiten der Bildung von Sinti und Roma nachdenken, sollten wir uns auch hier davor hüten, den unreflektiert auf Qualifizierung verkürzten Begriff von Bildung zu verwenden.
Auf Anzeichen dafür, dass tatsächlich in einer solchen Richtung gedacht und geplant wird, machen kritische Beobachter des Zeitgeschehens immer wieder aufmerksam, erhalten jedoch wenig Publizität. Freilich ist damit nichts gegen das Ziel einer möglichst guten berufsbezogenen Qualifizierung möglichst vieler Menschen ausgesagt. Wollte man allerdings Bildung mit Qualifizierung gleichsetzen, dann würde dies die Preisgabe wichtiger Aufgaben von Pädagogik bedeuten und ihr den eigentlichen Sinn nehmen.
Wozu betreiben wir Pädagogik? Was ist ihre wesentliche Aufgabe, ihre wichtigste Bestimmung?
Ich denke, man kann sich recht leicht darauf einigen zu sagen, dass Pädagogik dazu dient, Prozesse menschlicher Entwicklung zu unterstützen. Man müsste dann allerdings klären, was unter "Prozessen menschlicher Entwicklung" zu verstehen ist. Nach einer, wie mir scheint, pädagogisch tragfähigen Definition zeigt sich menschliche Entwicklung in der Erweiterung realitätsbezogener Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Durch sie wird der Mensch zunehmend befähigt, Einfluss auf seine sich ändernden Lebensumstände zu nehmen und Einsichten in die Bedingungen seiner Lebensführung zu gewinnen. Solche Prozesse lassen sich sowohl für einzelne Individuen im Rahmen ihrer jeweiligen Lebensspanne als auch für einzelne Völker und Kulturen in ihren jeweiligen Zeit- und Lebensräumen nachweisen. So schreiben wir als einzelne Individuen uns selbst Entwicklung zu, aber wir erkennen auch allgemeine Entwicklungen menschlichen Daseins, zum Beispiel die enorme Erhöhung der Mobilität und die Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten. Diese beiden epochaltypischen Beispiele zeigen, dass es möglich ist, den Gedanken von der Erweiterung der Denk- und Handlungsmöglichkeiten in historischer Perspektive auf die gesamte Menschheit zu beziehen.
Dabei ist zu bedenken, dass menschliche Entwicklungsprozesse letztlich stets auf konkreten Erfahrungen bei der realen Lebensgestaltung - sei es in künstlerisch-ästhetischer, religiös-kultischer oder praktisch-technischer Hinsicht - beruhen. Die Dokumentation und begriffliche Fassung solcher Erfahrungen - etwa durch Bilder, Sprache oder ganz konkrete Produkte - ist die Grundlage des neu erworbenen und - vor allem - des vermittelbaren Wissens und sie bildet damit die Grundlage für weitere Pläne, die Lebensumstände zu verändern und neue Erfahrungen mit der so veränderten Welt zu gewinnen. An dieser Stelle der Gedankenführung wird eine weitere wichtige Erkenntnis deutlich: Notwendig für die Entwicklung sowohl des Einzelnen als auch ganzer Gruppen von Menschen sind Prozesse der Vermittlung von Mensch zu Mensch. Die Formen und Anlässe solcher Vermittlung sind vielfältig. Vermitttlungsprozesse können sich direkt und unmittelbar vollziehen, wenn Menschen in bestimmten Situationen direkt von anderen lernen oder von ihnen belehrt werden. Oft geschieht dies in ganz natürlicher Form, ohne Intention oder institutionellen Rahmen: etwa, wenn Kinder auf dem Wege der Imitation viele Fertigkeiten der älteren Kinder und Erwachsenen übernehmen, wenn sie den Geschichten und Erzählungen der Älteren lauschen, oder wenn sie sich darüber belehren lassen, wie sie bestimmte Alltagssituationen am besten bewältigen können. Die Vermittlung kann aber auch in planvoll herbeigeführten, eigens arrangierten Lehr- oder Lernsituationen durch gezielte Einflussnahme von Eltern, Pädagogen oder Ausbildern geschehen. Nicht zu vergessen sind aber auch Vermittlungsformen von Mensch zu Mensch unabhängig von Raum und Zeit - beispielsweise, wenn wir hier und heute etwas lesen, was ein anderer Mensch an einem ganz anderen Ort und lange Zeit vor Beginn unseres Lebens verfasst hat, wenn wir Lieder lernen, deren Texte und Melodien lange vor unserer Zeit entstanden sind, wenn wir uns mit Kunstwerken aus früheren Epochen befassen oder wenn wir uns nützliche Techniken oder Erfindungen aneignen: Vermittelnder Austausch findet immer statt. Der Mensch kann sich also nur in der menschlichen Gemeinschaft entwickeln. Das bedeutet aber auch, dass jede Form des Ausschlusses aus der menschlichen Gemeinschaft das Spektrum der prinzipiell vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten reduziert. Auf der individuellen Ebene lässt sich dies am Beispiel der Hospitalismus oder der Untersuchungen sogenannter "Wolfskinder" und "wilder Kinder" zeigen, auf der gesellschaftlichen Ebene am Beispiel des eingeschränkten Bildungsrechts bestimmter Gruppen von Menschen. Erinnert sei an die Situation von schwarzen Sklaven und deren Nachkommen, von lohnabhängigen Arbeitern, von Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, von Flüchtlingen und Migranten - sei es zu früheren Zeiten oder noch immer, sei es in anderen Teilen der Welt oder auch bei uns in Deutschland. Betroffen davon waren auch lange Zeit die Sinti und Roma, und die vielfältigen Folgen dieses Ausschlusses wirken noch immer nach. Sicher wird dies Herr Strauß gleich noch näher erläutern.
Um nicht missverstanden zu werden: Nur totaler Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft verhindert Entwicklung; in Fällen partiellen Ausschlusses verbleiben immer noch Möglichkeiten der Entwicklung, aber sie sind begrenzt und oft erheblich erschwert. Bisweilen werden sogar die verbleibenden Möglichkeiten besonders intensiv genutzt, was zu ganz erstaunlichen Entwicklungen geführt hat.
Bisher habe ich den Begriff des Menschlichen lediglich im Sinne eines Attributs zur Kennzeichnung der Gattung Mensch verwendet, und ich habe diesen Begriff auf die Erweiterung von Denk- und Handlungsmöglichkeiten bezogen. Dies reicht nicht aus. Denn wie die Geschichte der Menschen gezeigt hat, ist nicht jede Erweiterung menschlicher Denk- und Handlungsmöglichkeiten als menschlich zu bezeichnen: Das eigentlich unvorstellbare Grauen, das Menschen an Menschen anrichten können, ist durch die Technik der Massenvernichtung im Holocaust und durch den Einsatz der Atombomben zur bewusst kontrollierten Wirklichkeit geworden, und auch im Prinzip völlig unschuldige Erfindungen, welche die Handlungsmöglichkeiten von Menschen enorm erweitert haben, bedrohen inzwischen recht massiv unsere Lebensgrundlagen auf der Erde: Denken wir nur an das Auto.
Damit sind zwei Richtungen gekennzeichnet, in die sich Menschen nicht weiter entwickeln dürfen:
Zum einen darf es nicht geschehen, dass ein Teil der Menschen seine Denk- und Handlungsmöglichkeiten ausbildet, erweitert und perfektioniert, um andere Menschen zu unterdrücken, für eigene Zwecke zu gebrauchen, zu beherrschen, kurz: über ihr Leben zu verfügen. Entsprechend wahrnehmbaren Tendenzen ist entgegenzutreten, und dies gilt auch und gerade für die professionelle Pädagogik. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Forderung von Adorno, dafür zu sorgen, dass Auschwitz nicht noch einmal sei. Positiv gewendet würde diese Forderung bedeuten, Menschen in ihrem Bestreben zu unterstützen, zunehmend stark, kompetent, wach und kritisch zu werden, um sich und andere vor Abhängigkeiten, Herrschaftsansprüchen, Zwängen und Vereinnahmungen zu schützen, also ein selbstbestimmtes Leben in Mündigkeit und Freiheit zu führen, an allen Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu partizipieren und Einfluss auf die eigenen Lebensverhältnisse und die eigene Biografie zu nehmen. Freilich sind diese Zielsetzungen stets als dynamisch, prozesshaft zu verstehen, wenn sie für alle Menschen in jeder Phase ihres Lebens gelten sollen. Das hier angesprochene Moment der Befreiung trifft im Kern das, was in einer langen Tradition menschlichen Denkens als Ziel und Inhalt von Bildung gilt.
So verstanden, kann Bildung je nach Lebenssituation völlig Verschiedenes bedeuten.
Bezogen auf die pädagogisch tätigen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft bedeutet Bildung beispielsweise, sich von Vorurteilen und von Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Kindern von Minderheiten zu befreien. Dies erfordert eine aufgeschlossene Haltung zur Erweiterung ihres Welt- und Menschenbildes. Im Umgang mit Kindern von Sinti und Roma und ihren Eltern könnte dies bedeuten, deren Verhaltensweisen nicht nur anhand von Kategorien zu bewerten, die den eigenen Erwartungen und Normen entsprechen und dann festgestellte Unterschiede gegenüber den eigenen Werten auf ethnische Besonderheiten zurückzuführen. Die Bildungsaufgabe bestünde vielmehr darin zu erkennen, dass diese Menschen stets verfolgt und immer ausgegrenzt worden sind, dass sie die ihnen aufgezwungenen Lebensumstände nach anderen Vorstellungen und Regeln gestalten mussten als die vergleichsweise privilegierte Mehrheitsbevölkerung die ihren und wie diese historischen Erfahrungen das aktuelle Leben der heutigen Generationen prägen.
Bezogen auf Sinti und Roma könnte das befreiende Moment der Bildung beispielsweise darin bestehen, die aus ihrer Geschichte verständlichen Vorbehalte und defensiven Haltungen gegenüber schulischen Institutionen und den dort vertretenen Inhalten zu überwinden und den potenziellen Nutzen für sich zu erkennen und - selbstverständlich - auch Ansprüche anzumelden.
Diese mit dem Begriff der Bildung gefasste Zielsetzung der Befreiung darf jedoch nicht verabsolutiert werden, indem sie allein individuellen Zielsetzungen wie Ausdehnung der Einflussmöglichkeiten zu Zwecken der Machterweiterung, des individuellen Lebensglücks oder der persönlichen Selbstverwirklichung untergeordnet wird. Im Zusammenhang mit Bildungsprojekten von und für Sinti und Roma besteht diesbezüglich wohl auch keine Gefahr. Gleichwohl möchte ich auf sie verweisen und den Gedanken der Erziehung als Gegenpol zur Bildung kurz ansprechen. Mit Erziehung ist der Prozess der Einbindung des Individuums in die Lebensinteressen der menschlichen Gemeinschaft gemeint, die auf zunehmende Verantwortlichkeit für eine humane Lebensgestaltung und für den Erhalt der Lebensgrundlagen, auf die Achtung der Würde anderer Menschen und ihrer Kulturen ausgerichtet ist. Die zunehmende Einsicht in die Notwendigkeit dieser Ziele und Werte, der Erwerb von Bereitschaften und Fähigkeiten, für diese Ziele einzutreten und der damit verbundene Verzicht auf individuelle Wünsche und Bestrebungen ist ebenfalls Ausdruck menschlicher Entwicklung. Seine Unterstützung gilt als Aufgabe der Erziehung .
Bildung und Erziehung stehen also in einem dialektischen Spannungsverhältnis. Erziehung läuft leicht Gefahr, die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten einzuschränken und zu begrenzen, was in Extremfällen zu kritiklosem Kadavergehorsam und reibungslosem Funktionieren in fremdem Interesse ausarten kann - Bildung hingegen läuft leicht Gefahr, den persönlichen, individuellen Interessen absoluten Vorrang vor anderen Lebenszielen zu geben, was dann mit oft elitären Ideologien verteidigt und Ausdruck in exclusivem Gehabe des angeblich Gebildetseins findet. Gerade diejenigen, die sich in dieser Weise gebildet dünkeln, sprechen gern anderen, die sie für weniger gebildet halten, die Fähigkeit und das Recht ab, ihre eigenen Entwicklungspotenzen zu entfalten und räumen ihnen weniger Bildungsmöglichkeiten ein, was dann wiederum dazu führt, dass sich ihre Ideologie zu bestätigen scheint. Die Geschichte des Umgangs der von der Mehrheitsgesellschaft vertretenen "Pädagogik" gegenüber den Kindern von Sinti und Roma steckt voller Beispiele für eine solche aus elitärem Bewusstsein gespeiste Arroganz und Ignoranz.

2. Bildung als Aufgabe, die Menschen miteinander verbindet

Sollen nun Probleme zwischen Minderheiten und Mehrheiten innerhalb einer Gesellschaft im Sinne des hier skizzierten Verständnisses von Pädagogik bearbeitet werden, dann bietet sich zunächst eine Analyse anhand der herausgearbeiteten Kategorien an. Diese Kategorien scheinen mir nicht nur geeignet zu sein, die Situation deutscher Sinti und Roma zu klären, sondern sie dürften auch dazu taugen, das Verhältnis zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, zwischen Arbeitsmigranten, Flüchtlingen und Spätaussiedlern einerseits und der ansässigen Bevölkerung andererseits, zwischen ehemals schwarzen Sklaven und den Nachkommen ihrer weißen "Besitzer", zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen, zwischen Menschen ohne Lebens- und Zukunftsperspektive und solchen mit langfristig gesicherter Lebensgrundlage zu analysieren.
Die Problemstruktur ist meistens die gleiche:
Die Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung oder der politisch einflussreichen Schichten bzw. Klassen verfügen über bestimmte Privilegien, die sie gegenüber anderen, die diese Privilegien nicht haben, zu verteidigen versuchen. Als ideologische Argumente zur Rechtfertigung solcher Besitzstände bemüht man sich um Aufwertung der eigenen Merkmale und gleichzeitige Abwertung der Merkmale solcher Menschen, welche die Rechtmäßigkeit der eigenen Privilegien in Frage stellen oder bedrohen könnten.
Auch und gerade die Schule in Deutschland wurde im 19. Jahrhundert bis zum Ende des Kaiserreichs ganz ausdrücklich für diese Zielsetzungen dienstbar gemacht. Alles, was als deutsch und kaisertreu galt, wurde gepflegt und honoriert, alles davon Abweichende entwertet und entwürdigt. In der Weimarer Zeit gelang es nicht, solche ausgrenzenden Denk- und Handlungskonzepte zu überwinden. Der Rückfall in die Barbarei des Nationalsozialismus ist der beschämende Beleg hierfür.
Können wir sicher sein, dass faschistisches Denken in unseren Köpfen überwunden ist? Ist unser Entsetzen über die gewalttätigen Auswüchse neofaschistischer Jugendlicher und unsere scharfe, mitunter auch demonstrative Distanzierung von solchen Gräueltaten ein sicheres Anzeichen dafür, dass wir immun dagegen sind?
Machen wir es uns mit diesen Fragen nicht zu einfach. Eine mir sehr einleuchtende Charakterisierung faschistischen Denkens beinhaltet, dass dieses darauf abzielt, die Menschheit zu spalten - etwa in Herrschende und Beherrschte, in Normale und Nichtnormale, in Lebenswerte und Lebensunwerte. Ich selbst muss zu meiner Beschämung gestehen, dass ich während einer langen Zeit meines Lebens Witze über Behinderte erzählt oder darüber gelacht habe, dass ich immer noch Formulierungen verwende, welche die angeblich unterschiedliche Wertigkeit von Menschen zum Ausdruck bringen, dass ich hin und wieder dazu neige, mir vorschnell ein negatives Urteil über andere zu bilden, ohne darüber nachzudenken, wie sich meine Wahrnehmungen aus der Sicht der anderen darstellen. Um aber bei solchen Selbstanalysen nicht in Verzweiflung zu geraten, ist es angebracht, darüber nachzudenken, welche gesellschaftlichen Strukturen die Ausbildung solcher im Kern faschistischer Haltungen bewirken. Dabei muss man leider der Schule eine gewichtige Rolle beimessen: Bestimmte organisatorische und curriculare Vorgaben, welche die Lehrkräfte zu befolgen haben, bewirken bei den Kindern oft langanhaltende Überzeugungen von der unterschiedlichen Wertigkeit der Menschen.
An erster Stelle ist da sicher die allzu frühzeitig einsetzende Ausleseprozedur des hierachisch gegliederten Schulsystems zu nennen. Sie macht den Kindern spätestens ab dem 3. Grundschuljahr über die Ziffernnoten sehr deutlich bewusst, dass mit den an ihre Leistungen angelegten Wertmaßstäben zugleich auch Werturteile über ihre Person verbunden sind etwa im Hinblick auf ihre Eignung für die unterschiedlich bewertbaren Bildungsgänge und die davon abhängigen Lebenschancen.. Wenn ich diese Gedanken gegenüber Lehrerinnen und Lehrern vorbringe, dann erlebe ich meistens, dass sie mehr oder weniger entschieden zurückgewiesen werden. Es ist in der Tat nicht leicht, das Problem zu lösen, wie man einerseits allen Kindern die gleiche pädagogisch förderliche Wertschätzung entgegenbringen soll und sie andererseits aufgrund ihrer Leistungen als unterschiedlich zu bewerten habe. Zumindest die als weniger gut bewerteten Kinder scheinen auch eine deutlich geringere Wertschätzung ihrer Person zu erleben und dieses Erleben auch zu verinnerlichen, während die positiv bewerteten Schülerinnen und Schüler sich in der Regel auch als Person bestätigt fühlen. Lehrerinnen und Lehrer zählen nun in der Regel zu der Gruppe ehemaliger Schülerinnen und Schüler, denen seitens der Schule ein relativ hohes Maß an persönlicher Wertschätzung entgegengebracht wurde; so haben sie das Auslesesystem erfolgreich durchlaufen und dadurch oft auch innerhalb ihrer Familie viel Anerkennung erworben. Mit Recht schreiben viele diesen Erfolg ihren vergleichsweise guten Fähigkeiten zu, und sie haben auch guten Grund, sich mit ihren positiv bewerteten Fähigkeiten zu identifizieren. Identitätsstiftend waren aber die ausleseorientierten Strukturen und Mechanismen des Schulsystems, die ihnen den Erfolg auf Kosten des Misserfolgs anderer sicherten. Folglich ist es verständlich, wenn gerade auch Lehrerinnen und Lehrer gegenüber den wettbewerbsorientierten Regularien der Institution Schule ein hohes Maß an Loyalität aufbringen und diese als allgemeinverbindlichen Wertekanon verabsolutieren. Dieser Gedanke wiederum könnte einige von mir überhaupt nicht gewünschte Interpretationen oder Reaktionen, nämlich: Man möchte ja so gern eine humane Pädagogik praktizieren, aber die Strukturen verböten es ja, oder: Man sei es den Kindern schuldig, sie frühzeitig und konsequent auf die harte, konkurrenzorientierte Wirklichkeit des Berufslebens vorzubereiten. So habe ich auch keinesfalls beabsichtigt, mit meinem Impulsreferat die Tagung zu einer fundamentalen Schulkritik umzufunktionieren - nein: es geht mir lediglich darum, darüber nachzudenken, wie Lehrerinnen und Lehrer solchen Kindern persönliche Achtung und Wertschätzung entgegenbringen können, die aufgrund ihrer Lebensumstände und Erfahrungen den geltenden Wertmaßstäben unseres Schulsystems eine ganz andere Bedeutung beimessen als sie selbst es sinnvollerweise tun. Allein diese Bedeutung aus der Sicht der im Bildungssystem Benachteiligten zu erkennen, ist eine anspruchsvolle Bildungsaufgabe für Lehrkräfte, eine noch anspruchsvollere, aber sicherlich nicht prinzipiell unlösbare Bildungsaufgabe ist es, hieraus auch praktische Konsequenzen für die Gestaltung des Schulalltags im Sinne des eingangs dargelegten Verständnisses von Pädagogik zu ziehen.

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